Zur Herausgabepflicht bezüglich der Patientenakte bei Verstorbenen ohne Schweigepflichtsentbindungserklärung der Erben - LG Kassel, Urteil vom 2. März 2022, Az. 2 O 560/21 (veröffentlicht bei juris und beck-online)

Tenor

  1. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin sämtliche Behandlungsunterlagen über die Patientin …, die mit deren Behandlung bei der Beklagten im Zeitraum von 22.01.2019 bis einschließlich 10.05.2019 in Zusammenhang stehen, insbesondere einen Auszug aus der Patientenakte der Patientin, Kopien des bildgebenden Materials, die Operationsberichte sämtlicher Operation im angegebenen Zeitraum, in Kopie herauszugeben - Zug um Zug gegen Erstattung der hierfür erforderlichen und angemessenen Kosten.
  2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren des Prozessbevollmächtigten in Höhe von 1.657,67 € zu zahlen
  3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren des Prozessbevollmächtigten der Klägerin aus dem Verfahren der ebenfalls nach Behandlung bei der Beklagten verstorbenen, ehemaligen Versicherten der Klägerin, …, in Höhe von 1.142,14 € zu zahlen
  4. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte
  5. Dieses Urteil ist in Ziffer 1 gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 1.000,- Euro, im Übrigen gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages, vorläufig vollstreckbar.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Herausgabe von Behandlungsunterlagen einer verstorbenen Versicherungsnehmerin, um selbst bzw. nach § 275 Abs. 3 Nr. 4 SGB V durch den medizinischen Dienst prüfen zu lassen, ob ein Behandlungs-​oder Pflegefehler durch die Behandler in der von der Beklagten betriebenen Klinik vorliegt, der auf sie nach § 116 SGB X übergegangen ist. Die Klägerin ist gesetzlicher Krankenversicherungsträger der verstorbenen Patientin, … . Die Beklagte ist Betreiberin des … . Die Beklagte verweigert die Herausgabe der Behandlungsunterlagen der verstorbenen Patientin. Die Klägerin vermutet Behandlungsfehler im Zusammenhang mit einer Behandlung in einer Klinik der Beklagten in der Zeit vom 22.01.2019 bis einschließlich 10.05.2019. Mit Schreiben vom 21.11.2019 (Bl. 26 d.A.), 06.02.2020 (Bl. 25 d.A.) und 01.04.2020 (Bl. 23 d.A.) forderte die Klägerin die Beklagte, unter Fristsetzung, auf die streitgegenständlichen Unterlagen zwecks Prüfung herauszugeben, was die Beklagte ablehnte mit der Begründung, dass die Klägerin eine Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben beizubringen habe. Gleichfalls forderte die Klägerin u.a. mit Schreiben vom 29.06.2020 (Bl. 27 d.A.) von der Beklagten die Herausgabe der Behandlungsunterlagen, der ebenfalls verstorbenen Patientin, …, für den Behandlungszeitraum vom 15.01.2020 bis 01.02.2020 heraus. Mit anwaltlichen Schreiben vom 03.11.2020 (Bl.20 f. d.A.) wurde nochmals die Übersendung der Behandlungsunterlagen gefordert und die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten, 1,3 Gebühr aus einem Gegenstandswert von 19.217,18 €, mit 1.142,14 € beziffert. Nachdem die Beklagte zunächst die Herausgabe verweigerte, wenn nicht eine Schweigepflichtentbindungserklärung vorgelegt werde, übersandte sie dann "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" die Unterlagen. Mit Schreiben vom 13.12.2020 forderte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin daraufhin die Begleichung der angefallenen Kosten seiner außergerichtlichen Tätigkeit unter Fristsetzung bis zum 15.01.2021. Die Beklagte lehnte die Übernahme der Kosten mit Schreiben vom 14.01.2021 ab und zahlte nicht.

Die Klägerin ist der Ansicht, ihr stehe ein Anspruch auf Herausgabe der für die Begutachtung bzw. Prüfung eines etwaigen Regressanspruchs notwendigen Unterlagen zu. Die Krankenkasse als der Versicherungsträger sei nicht unmittelbar am Behandlungsgeschehen beteiligt. Erfolge ein Behandlungsfehler, gehe der Schadensersatzanspruch des Patienten zwar sofort mit dem schädigenden Ereignis gemäß § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X auf die Krankenkasse über, hiervon zu unterscheiden sei aber die Frage der Verjährung. Gerade bei Behandlungsfehlern bekomme die Krankenkasse nämlich nicht automatisch die gemäß § 199 Abs. 1 BGB für die Verjährung auslösende Kenntnis. Die Klägerin sei zudem gemäß § 76 Abs. 1 SGB IV verpflichtet, die Einnahmen unverzüglich und vollständig zu erheben und habe daher eine öffentlich-​rechtliche Pflicht, Schadensersatzansprüche bzw. Gesundheitsschäden ihrer Mitglieder auf mögliches Drittverschulden hin zu überprüfen, um gegebenenfalls Ersatzansprüche nach § 116 SGB X geltend machen zu können. Im vorliegenden Fall würden die elektronischen Krankenhausdaten der Patientin … bezüglich ihres Behandlungsaufenthalts im Klinikum der Beklagten gleich 2 Komplikationen aufweisen, aus denen sich Verdachtsmomente ergeben würden. Zum einen der Code T81.0, welcher für eine Komplikation im Zusammenhang mit einem Eingriff, bei dem eine Blutung oder ein Hämatom entstand und zum anderen der Code T82.1, welcher für eine Komplikation im Zusammenhang mit einem Eingriff, bei dem eine mechanische Komplikation mit einem kardialen elektronischen Gerät (Herzschrittmacher) besteht. Beide Komplikationen seien durch die von der Beklagten betriebenen Klinik übermittelten Daten im streitgegenständlichen Fall entstanden. Im Zusammenhang mit den völlig ungewöhnlich hohen Kosten von 300.639,16 € sei die Mitteilung einer Komplikation ein objektiver Anhaltspunkt, der eine Prüfung dieses Verdachts notwendig mache. Ob es sich bei den Komplikationen um nicht vermeidbare Komplikationen oder um tatsächliche Behandlungsfehler handele, könne sodann aber nur anhand der Behandlungsunterlagen nachvollzogen werden. Die Rechtsprechung billige den Sozialversicherungsträgern in dieser Situation einen Herausgabe- und Einsichtsanspruch als Nebenrecht zu. Mit dem vermuteten Schadensersatzanspruch gehe auch der Anspruch auf Herausgabe der Behandlungsunterlagen gemäß §§ 116 Abs. 1 SGB X i.V.m. §§ 401, 412 BGB von der geschädigten Person auf die Klägerin über. Auch ohne das Vorliegen einer Schweigepflichtentbindungserklärung sei regelmäßig von der mutmaßlichen Einwilligung des Verstorbenen Patienten auszugehen, so dass die Behandlungsunterlagen herauszugeben seien. Die Klägerin ist ferner der Ansicht, dass ein Anspruch gemäß § 286 Abs. 1 Nr. 3 BGB auf Zahlung der außergerichtlichen Anwaltsgebühren aus einer Gebühr von 1,8 begründet sei. Aufgrund der Anrechnungsvorschriften, erfolge eine Abrechnung in Höhe einer 1,0 Gebühr. Hinsichtlich der Patientin … nach einer 1,3 Gebühr.

Die Klägerin beantragt [wie erkannt]

Die Beklagte ist der Ansicht, dass der Klägerin kein Anspruch auf Herausgabe der Behandlungsunterlagen der Patientin … zustehe. Gesetzlich normiert sei weder im Sozialrecht eine einschlägige Ermächtigungsgrundlage der Klägerin zur Auskunftserteilung gegenüber der Beklagten noch sei nach der Kodifizierung des Patientenrechtegesetzes eine zivilrechtliche Anspruchsgrundlage vorhanden. Die Herleitung eines Anspruchs der Klägerin aus § 116 SGB X i.V.m. §§ 401 analog, 412 BGB, überzeuge nicht, soweit dies ohne eine Legitimation durch eine Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben der verstorbenen Versicherten … geschehe. Die von der Klägerin zitierten Urteile seien sämtlich auf Sachverhalte zurückzuführen, bei welchen Schweigepflichtentbindungserklärung vorliegen würden bzw. vor in Kraft treten des Patientenrechtsgesetzes. Vorliegend sei dies aber gerade nicht der Fall. Es sei auch nicht auf den mutmaßlichen Willen der Patientin abzustellen bzw. darauf, dass diese mit einer Einsichtnahme einverstanden gewesen wäre. In § 630g Abs. 3 BGB sei ausdrücklich geklärt, dass Ansprüche den Erben zustehen würden. Die Klägerin, als Krankenkasse sei hier nicht aufgeführt. Da das Einsichtsnahmerecht im Todesfall ausdrücklich geregelt wurde, sei auch nicht von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen. Die Klägerin bedürfe daher der Vorlage einer Schweigepflichtentbindungserklärung durch die Erben, die die Klägerin jedoch bis heute nicht vorgelegt habe. Mangels Vorlage der Schweigepflichtentbindungserklärung, stehe der Klägerin kein Anspruch auf Herausgabe der begehrten Behandlungsunterlagen zu. Sowohl aus berufsrechtlichen Gründen wie auch aus strafrechtlichen Gründen, bestehe eine Verschwiegenheitsverpflichtung, so dass ohne Vorlage der Schweigepflichtentbindungserklärung keine Auskünfte bzw. Herausgabe der Behandlungsunterlagen erfolgen könne. Hinsichtlich der Patientin …, habe die Klägerin keinen Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Anwaltskosten. Auch insoweit habe die Klägerin keine Schweigepflichtentbindungserklärung vorgelegt, so dass die Beklagte aus diesem Grunde mit der Herausgabe nicht in Verzug gewesen sei. Zudem habe es sich bei den Schreiben der Klägerin vom 29.05.2020 und 06.07.2020 lediglich um Bitten zur Übersendung der Unterlagen gehandelt. Eine Fristsetzung sei nicht gesetzt worden, so dass keine eindeutige und bestimmte Leistungsaufforderung vorgelegen habe. Die Beklagte habe mitgeteilt, dass man im Falle der Vorlage der Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben selbstverständlich die angeforderten Behandlungsunterlagen übersenden werde. Eine endgültige und ernsthafte Leistungsverweigerung liege daher gerade nicht vor.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Klage ist zulässig und begründet.

II.

1. Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Einsicht in die Behandlungsunterlagen gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB zu.

a) Unstrittig haben die Patientinnen, mithin auch die verstorbenen Versicherungsnehmerinnen der Klägerin, Frau … und Frau …, gemäß § 630 g Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Einsichtnahme in die vollständigen Patientenunterlagen. Dieser Einsichtsanspruch ist gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB auf die Klägerin übergegangen. Die Klägerin war zur Übernahme der Krankenkosten verpflichtet. Im Hinblick auf solche Kosten, die aufgrund einer fehlerhaften Behandlung entstanden sind, kann den Versicherten ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte zustehen, welcher gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf die Klägerin übergehen würde. Entsprechend steht der Klägerin zur Prüfung derartiger Schadensersatzansprüche auch aus übergegangenem Recht ein Anspruch auf Einsicht in die Krankenunterlagen zu.

b) Zu Unrecht beruft sich die Beklagte in diesem Zusammenhang auf eine bestehende Verschwiegenheitsverpflichtung.

Dabei ist grundsätzlich zutreffend, dass die von der Beklagten betriebene Klinik und die dortigen Behandler gegenüber den verstorbenen Versicherten sowohl aus dem Behandlungsvertrag, als auch unter Berücksichtigung von § 203 Abs. 4 StGB zur Verschwiegenheit verpflichtet sind und daher grundsätzlich gehindert sind, die Behandlungsunterlagen anderen Personen (Dritten) zur Verfügung zu stellen.

Diese Verschwiegenheitsverpflichtung greift grundsätzlich auch über den Tod der Betroffenen hinaus, wie sich dies aus § 203 Abs. 4 StGB ergibt. Dies gewährleistet, dass geheimhaltungsbedürftige Tatsachen auch nach dem Versterben der Betroffenen weiter geheim gehalten bleiben.

Jedoch hängt es nach dem Tode des Betroffenen vom mutmaßlichen Willen des Verstorbenen ab, ob und in welchem Umfang der Geheimnisträger zum Schweigen verpflichtet ist. Hat sich der Verstorbene hierüber zu Lebzeiten geäußert, ist grundsätzlich der geäußerte Wille maßgeblich. Lässt sich dagegen eine Willensäußerung nicht feststellen, muss der mutmaßliche Wille des Verstorbenen erforscht werden. Dabei sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.

Dem mutmaßlichen Willen der Versicherten kommt auch in der vorliegenden Konstellation entscheidende Bedeutung zu. Insbesondere ist der mutmaßliche Wille vor einer etwa eingeholten Entscheidung der Erben vorrangig.

Dem steht auch nicht § 630g Abs. 3 BGB entgegen. Danach stehen im Falle des Todes des Patienten Einsichtsnahmerechte den Erben und den nächsten Angehörigen zu. Damit ist zum einen klargestellt, in welchen Fällen das Einsichtsnahmerecht vererbt wird, zudem wird ein eigenes Recht auf Einsichtnahme den nächsten Angehörigen zugestanden. Die Rechtsstellung der Berechtigten wird damit insbesondere auch dadurch gestärkt, dass diese Einsichtsnahmerechte geltend machen können, ohne den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen nachweisen zu müssen und es vielmehr, gerade auch in Zweifelsfällen, dem Behandler obliegt, einen entgegenstehenden mutmaßlichen Willen darzulegen. Letztlich kommt allerdings - auch nach der Regelung des § 630 g Abs. 3 BGB dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen die entscheidende Bedeutung zu. Dies geht aus § 630 g Abs. 3 Satz 2 BGB explizit hervor.

Im Rahmen des Patientenrechtegesetzes wurde auch der § 630 g BGB eingeführt. Das Patientenrechtegesetz regelt die Rechtsstellung zwischen Patient und Behandler. § 630g Abs. 3 BGB regelt mithin die Rechtsstellung der Erben und nahen Angehörigen gegenüber dem Behandler. Der Argumentation der Beklagten, der Kreis derjenigen, welche neben dem Patienten ein Recht auf Einsicht in die Behandlungsdokumentation hätten, sei durch § 630g BGB abschließend geregelt, kann sich die Kammer nicht anschließen. Alleine aus der Verbesserung der Rechtsstellung der Hinterbliebenen nach dem Patientenrechtegesetz kann nicht der Schluss gezogen werden, dass das Einsichtsnahmerecht in § 630 g BGB abschließend geregelt und die Rechtsstellung anderer möglicher Verfahrensbeteiligter, insbesondere der beteiligten Krankenkassen, im Vergleich zur früheren Rechtslage eingeschränkt werden sollte. Hierfür bieten weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift Anhaltspunkte. Es besteht auch Einigkeit, dass jedenfalls Rechte aus § 810 BGB weiterhin bestehen können (Palandt/Sprau, 75. Auflage, § 810 BGB Rn. 4). Zudem belegt § 630 g Abs. 3 Satz 2 BGB, dass dem mutmaßlichen Willen des verstorbenen Patienten auch nach dem Patientenrechtegesetz weiterhin die entscheidende Bedeutung zukommt.

Daher kann die Klägerin grundsätzlich ein gem. § 116 SGB X auf sie übergegangenes Recht auf Einsichtnahme geltend machen, soweit dies dem mutmaßlichen Willen der Verstorbenen entspricht.

c) Die Entscheidung, ob die Verstorbene die Krankenkasse mutmaßlich von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden hätte, obliegt dem jeweiligen Geheimnisträger. Ihm kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu, der durch die Gerichte nur eingeschränkt nachprüfbar ist. Der Geheimnisträger ist daher zu einer gewissenhaften Überprüfung verpflichtet, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Verstorbene die ganz oder teilweise Offenlegung der Krankenunterlagen gegenüber der möglicherweise zum Schadensersatz berechtigten Krankenkasse missbilligt hätte (OLG München, Beschluss, vom 19.09.2011, 1 W 1320/11 Rn. 16). Dabei genügt es jedoch nicht, dass sich die Beklagte nur grundsätzlich auf ihre Pflicht zur Verschwiegenheit beruft. Es muss vielmehr nachvollziehbar vorgetragen werden, dass sich die Weigerung auf konkrete oder mutmaßliche Belange der Verstorbenen und nicht auf sachfremde Gesichtspunkte stützt.

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte jedoch keinerlei Gesichtspunkte vorgetragen, die für oder gegen den mutmaßlichen Willen der Verstorbenen sprechen würden.

In Fällen wie dem vorliegenden, in dem die Entbindung von der Schweigepflicht dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen wegen der Verletzung von Behandlungspflichten ermöglichen soll, wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Offenlegung der Unterlagen gegenüber dem Krankenversicherer dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entspricht. Insoweit wird auf die Entscheidung des BGH betreffend behaupteter Ansprüche bei fehlerhafter Behandlung in einem Pflegeheim, BGH Urteil vom 26.02.2013, Az. VI ZR 359/11, Rn. 13, verwiesen. Es ist zwar zutreffend, dass in dieser Entscheidung nicht auf das Patientenrechtegesetz eingegangen wird (dieses ist erst am Tag der Entscheidung in Kraft getreten), wie aber bereits oben ausgeführt, steht nach Auffassung der Kammer das Patientenrechtegesetz dem Einsichtsnahmerecht der Klägerin nicht entgegen.

Es ist daher davon auszugehen, dass der Patient grundsätzlich an der Aufdeckung von Behandlungsfehlern interessiert ist. Darüber hinaus ist auch davon auszugehen, dass der Verstorbene kein Interesse daran hat, dass etwaige Schadensersatzansprüche verfallen und die entsprechenden Schäden von der Solidargemeinschaft des Krankenversicherten getragen werden müssen. In diesem Zusammenhang kann, auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Krankenkasse ohnehin bereits über eine Vielzahl von Informationen und Unterlagen in Bezug auf die ärztliche Behandlung des (verstorbenen) Patienten verfügt, so dass das Geheimhaltungsinteresse im Verhältnis zur Krankenkasse grundsätzlich geringer sein dürfte als gegenüber weiteren Dritten.

Daher ist davon auszugehen, dass der mutmaßliche Wille der Verstorbenen hier dahingeht, dass die Klägerin Einsicht in die Behandlungsunterlagen nehmen kann. Insoweit ist die zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Einsichtsnahmerecht von Pflegekassen entsprechend anzuwenden (LG München I Endurteil v. 15.11.2017 – 9 O 3174/17, BeckRS 2017, 144974 Rn. 17-​32, beck-​online).

2. Der Klägerin steht ferner ein Anspruch auf Erstattung der außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu.

Die Beklagte lehnte die Herausgabe der Behandlungsunterlagen der Verstorbenen, ohne Vorlage einer Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben, ab. Wie unter 1. ausgeführt erfolgte dies zu Unrecht.

Hinsichtlich der Versicherten, Frau …, erfolgte die Übersendung der Behandlungsunterlagen – ohne Vorlage einer Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben- erst nach Aufforderung durch die Prozessbevollmächtigten der Klägerin.

Sowohl die seitens der Klägerin angenommenen Gegenstandswerte, als auch die Höhe der Geschäftsgebühr, in der Angelegenheit E... mit 1,3 und in der Angelegenheit K... mit 1,8 bzw. 1,0 unter Anrechnung, sind begründet und angemessen.

Der Einsatz von Spezialkenntnissen, um die es sich beim Arzthaftungsrecht wie allgemein beim Medizinrecht durchaus handelt, ist etwas, das als Kriterium rechtlicher Schwierigkeit auch zugunsten des Spezialisten anzuerkennen ist. Es kommt demnach nicht maßgeblich darauf an, ob es sich für die mit der Sache befassten Anwälte einer speziell auf Arzthaftungsrecht spezialisierten Kanzlei um einen "Durchschnittsfall" handelt oder ob er auch aus Sicht eines Spezialisten außergewöhnlich umfangreich oder schwierig ist. Von den beiden Bemessungskriterien rechtliche Schwierigkeit und Umfang der anwaltlichen Tätigkeit stellt der Umfang der entfalteten Tätigkeit das im Regelfall wesentlichere Kriterium dar (OLG Köln, Beschluss vom 19.03.2015 - 5 W 7/15).

III.

Der Ausspruch über die Kosten beruht auf § 91 ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht, auf § 709 ZPO. Dabei war für die Höhe der Sicherheitsleistung nicht die Höhe des Streitwertes, sondern die Höhe eines möglichen Vollstreckungsschadens, hier der Erstellung der fraglichen Dokumentation, maßgeblich (Zöller/Herget, ZPO 34. Aufl. 2022, § 709 ZPO Rn. 5). Dieser wurde mit Hinzurechnung eines ebenfalls anzusetzenden Sicherheitszuschlages geschätzt.

 


Arzthaftung und Verjährung: Zurechnung medizinischen Fachwissens innerhalb einer Anwaltskanzlei? Prelinger, jurisPR-MedizinR 11/2021 Anm. 1 (Anmerkung zu BGH, Urteil vom 26.05.2020 - VI ZR 186/17)

Die regelmäßige Verjährungsfrist nach § 195 BGB wird mangels grob fahrlässiger Unkenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen i.S.v. § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB grundsätzlich nicht schon dann in Lauf gesetzt, wenn es der Geschädigte oder sein Wissensvertreter unterlässt, Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin zu überprüfen (Festhalten an BGH, Urt. v. 16.05.1989 – VI ZR 251/88 – NJW 1989, 2323).

1. Problemstellung

Besteht der Verdacht eines Behandlungsfehlers, so bedienen sich viele Patientinnen und Patienten anwaltlicher Beratung und Begleitung. Hierbei kann der zuständige Anwalt Wissensvertreter i.S.d. § 166 Abs. 1 BGB sein und somit die für den Verjährungsbeginn gemäß § 199 Abs. 1 BGB maßgebliche Kenntnis erlangen.

Der BGH hatte im vorliegenden Fall darüber zu entscheiden, ob das auch gilt, wenn nicht der mandatierte Anwalt der Kanzlei diese Kenntnis hatte, sondern ein anderer Anwalt die Kenntnis aus einer anderen Angelegenheit hatte. Zudem hatte der BGH darüber zu entscheiden, ob für die Kenntniserlangung der Erhalt der Behandlungsunterlagen ausreicht.

2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger wurde am 22.11.2003 mit einem Gewicht von 5.100 g im Krankenhaus der Beklagten zu 1) geboren. Die Geburt wurde zunächst von der Beklagten zu 3) als der diensthabenden Stationsärztin geleitet. Später übernahm die Beklagte zu 2) als gynäkologische Chefärztin die Geburtsleitung. Während der Geburt trat eine Schulterdystokie auf, weshalb die Beklagte zu 2) die Entscheidung zu einer vaginal-​operativen Entbindung traf. Nach der Entbindung war der linke Arm des Klägers mit Hämatomen besetzt und schlaff. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden eine obere und untere Parese des Plexus brachialis links sowie eine Claviculafraktur diagnostiziert.

Die Mutter des Klägers fertigte am 04.08.2006 ein umfangreiches Gedächtnisprotokoll, in dem sie die Ereignisse von ihrer Aufnahme ins Krankenhaus der Beklagten zu 1) bis zur Geburt des Klägers detailliert beschrieb und Kritik an der angewandten geburtshilflichen Technik sowie daran übte, dass eine Risikoaufklärung unterblieben und keine Kaiserschnittentbindung angeboten worden seien.

Auf Aufforderung der Prozessbevollmächtigten des Klägers übersandte die Beklagte zu 1) ihnen am 22.09.2006 die aus 91 Seiten bestehende Dokumentation über den stationären Aufenthalt der Mutter des Klägers. Eine Seite des Geburtsprotokolls, die den Zeitraum von der Aufnahme der Mutter bei der Beklagten zu 1) am Nachmittag des 19.11.2003 bis um 13.40 Uhr am Folgetag dokumentiert, fehlte zunächst und wurde erst im Mai 2008 übermittelt. Mit Schreiben vom 09.08.2007 erhoben die damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers Ansprüche gegen die Beklagte zu 1), deren Haftpflichtversicherer in einem Schreiben vom 20.08.2007 ankündigte, Einsicht in die Behandlungsunterlagen zu nehmen sowie ärztliche Stellungnahmen einzuholen und sich anschließend zur Deckungs- und Haftungsfrage zu äußern. Am 26.10.2007 lehnte der Haftpflichtversicherer eine Haftung der Beklagten ab. Am 13.11.2007 baten die Prozessbevollmächtigten des Klägers um eine nochmalige Überprüfung der Sach- und Rechtslage und um die Überlassung weiterer Unterlagen. Der Haftpflichtversicherer übersandte am 05.05.2008 die fehlende erste Seite der Dokumentation des stationären Aufenthalts der Mutter des Klägers unter Hinweis darauf, man halte an der bereits im Schreiben vom 26.10.2007 bekundeten Auffassung fest. Auf nochmalige Aufforderung vom 02.06.2008 übersandte der Haftpflichtversicherer am 05.08.2008 weitere Unterlagen. Die Prozessbevollmächtigten des Klägers reagierten darauf mit Schreiben vom 12.06.2009.

Mit der am 29.10.2010 bei Gericht eingegangenen Klage begehrt der Kläger von den Beklagten als Gesamtschuldner die Zahlung von Schmerzensgeld und materiellem Schadensersatz.

Der BGH führte aus, das die nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB erforderliche Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners nicht schon dann bejaht werden könne, wenn dem Patienten oder seinem gesetzlichen Vertreter lediglich der negative Ausgang der ärztlichen Behandlung bekannt ist. Er müsse vielmehr auch auf einen ärztlichen Behandlungsfehler als Ursache dieses Misserfolgs schließen können. Dazu müsse er nicht nur die wesentlichen Umstände des Behandlungsverlaufs kennen, sondern auch Kenntnis von solchen Tatsachen erlangen, aus denen sich für ihn als medizinischen Laien ergibt, dass der behandelnde Arzt von dem üblichen medizinischen Vorgehen abgewichen ist oder Maßnahmen nicht getroffen hat, die nach dem ärztlichen Standard zur Vermeidung oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich waren.

Diese Kenntnis sei erst vorhanden, wenn die dem Anspruchsteller bekannten Tatsachen ausreichen, um den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten des Anspruchsgegners und auch die Ursache dieses Verhaltens für den Schaden als naheliegend erscheinen zu lassen. Hinsichtlich der Kenntnis der für den Beginn der Verjährungsfrist maßgebenden Umstände komme es grundsätzlich auf die Person des Anspruchsgläubigers selbst an.

Allerdings müsse sich der Anspruchsgläubiger entsprechend § 166 Abs. 1 BGB und mit Rücksicht auf Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch die Kenntnis eines Wissensvertreters zurechnen lassen. Wissensvertreter sei jeder, der nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, im Rechtsverkehr als dessen Repräsentant bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen sowie ggf. weiterzuleiten. Dazu gehöre etwa die Verfolgung eines Anspruchs des Geschäftsherrn. Zugerechnet werde auch das Wissen eines Rechtsanwalts, den der Geschädigte mit der Aufklärung eines bestimmten Sachverhalts, etwa der Frage eines ärztlichen Behandlungsfehlers beauftragt habe. Die auf eine derartige Beauftragung begründete Zurechnung umfasst nicht nur das positive Wissen des Wissensvertreters, sondern auch seine leichtfertige oder grob fahrlässige Unkenntnis. Das Berufungsgericht komme daher zu dem Ergebnis, dass allein die Vorwürfe der Mutter des Klägers im Gedächtnisprotokoll nicht auf ihre in diesem Sinne ausreichende Kenntnis eines vom Standard abweichenden ärztlichen Verhaltens bereits im Jahr 2006 schließen lassen. Soweit das Berufungsgericht auf den Kenntnisstand der Rechtsanwälte abstelle, denen die Eltern des Klägers im Juli 2006 Prozessvollmacht erteilt hatten, nimmt es die gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 BGB erforderliche Kenntnis von den Behandlungsfehlern begründenden Tatsachen erst für August 2007 an, da diese in dem Anwaltsschreiben vom 09.08.2007 mit hinreichender Deutlichkeit „angesprochen“ worden seien.

Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen nach Auffassung des BGH jedoch die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht bezüglich der Behandlungsfehler eine grobfahrlässige Unkenntnis der Prozessbevollmächtigten des Klägers für das Jahr 2006 annahm. Grobe Fahrlässigkeit setze einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige Unkenntnis liege dann vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis fehlt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt und auch ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen. Ihm muss persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung vorgeworfen werden können.

Dabei beziehe sich die grob fahrlässige Unkenntnis ebenso wie die Kenntnis auf Tatsachen, auf alle Merkmale der Anspruchsgrundlage und bei der Verschuldenshaftung auf das Vertretenmüssen des Schuldners, wobei es auf eine zutreffende rechtliche Würdigung nicht ankommt. Ausreichend sei, wenn dem Gläubiger aufgrund der ihm grob fahrlässig unbekannt gebliebenen Tatsachen hätte zugemutet werden können, zur Durchsetzung seiner Ansprüche gegen eine bestimmte Person aussichtsreich, wenn auch nicht risikolos Klage – sei es auch nur in Form einer Feststellungsklage – zu erheben.

Nach gefestigter Rechtsprechung bestehe für den Gläubiger aber keine generelle Obliegenheit, im Interesse des Schädigers an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist Initiative zur Klärung von Schadenshergang oder Person des Schädigers zu entfalten. Für die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Gläubiger zur Vermeidung der groben Fahrlässigkeit zu einer aktiven Ermittlung gehalten ist, komme es vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls an. Das Unterlassen einer Nachfrage sei nur dann als grob fahrlässig einzustufen, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Unterlassen aus der Sicht eines verständigen und auf seine Interessen bedachten Geschädigten als unverständlich erscheinen lassen. Für den Gläubiger müssten konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein und sich ihm der Verdacht einer möglichen Schädigung aufdrängen.

Den Geschädigten treffe auch im Allgemeinen keine Informationspflicht. Der Patient und sein Prozessbevollmächtigter seien nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen Haftungsprozess medizinisches Fachwissen anzueignen.

Das Berufungsgericht habe auf das ausweislich des Schriftsatzes vom 04.12.2006 in einem anderen Verfahren gezeigte bereits vorhandene medizinische Fachwissen der Prozessvertreter des Klägers abgestellt, obwohl der Kläger geltend gemacht hat, dass Rechtsanwalt S. mit der Bearbeitung des Mandats des Klägers beauftragt worden sei, während der Schriftsatz in dem anderen Verfahren von Rechtsanwalt U. stamme.

Sollte die Entscheidung des Berufungsgerichtes dahin zu verstehen sein, dass mit der Erteilung eines Gesamtmandates an eine Sozietät alle Sozien zu Wissensvertretern für die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis werden und deshalb eine Zusammenrechnung des Wissens der Sozien zu erfolgen hat, sei wegen der grundsätzlich anzuerkennenden Gepflogenheit, innerhalb einer Anwaltssozietät die Bearbeitung der Mandate meist einzelnen Sozien zur eigenverantwortlichen Erledigung zu übertragen, zunächst die Frage zu beantworten gewesen, welche Voraussetzungen für eine Wissenszurechnung und eine etwaige Wissenszusammenrechnung bei einer solchen am Rechtsverkehr teilnehmenden Organisation heranzuziehen sind, bei der typischerweise Wissen bei verschiedenen Personen aufgespaltet sei.

Es könne allerdings dahinstehen, ob die für den rechtsgeschäftlichen Verkehr mit juristischen Personen entwickelten Grundsätze der Wissenszurechnung und Wissenszusammenrechnung im Rahmen der deliktsrechtlichen Haftung oder Verjährung überhaupt Anwendung finden können. Jedenfalls könne sowohl nach den für den rechtsgeschäftlichen Verkehr entwickelten Zurechnungsgrundsätzen wie nach der Rechtsprechung des Senats für Behörden und öffentliche Körperschaften, nach der auf die Kenntnis des nach der behördlichen Organisation zuständigen, mit der Vorbereitung und Verfolgung von Schadensersatzansprüchen betrauten Bediensteten abzustellen ist, das medizinische Fachwissen eines Sozius einem anderen regelmäßig nicht zugerechnet werden.

Jede am Rechtsverkehr teilnehmende Organisation müsse im Rahmen des ihr Zumutbaren sicherstellen, dass die ihr ordnungsgemäß zugehenden, rechtserheblichen Informationen unverzüglich an die entscheidenden Personen weitergeleitet und von diesen zur Kenntnis genommen werden. Maßgeblich ist dabei, ob unter den Umständen des konkreten Einzelfalls ein Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Vertretern möglich und geboten gewesen wäre. Die Entscheidungsträger müssen sich dann so behandeln lassen, als hätten sie das Wissen gehabt, wenn die Zeit verstrichen ist, die bei Bestehen eines effizienten internen Informationssystems benötigt worden wäre, um ihnen die Kenntnis zu verschaffen.

Zugerechnet werde nach der Rechtsprechung einer juristischen Person das Wissen auch derjenigen Organwalter und Mitarbeiter, die am Abschluss eines Vertrages selbst nicht beteiligt sind, sofern dieses Wissen bei ordnungsgemäßer Organisation aktenmäßig festzuhalten, weiterzugeben und vor Vertragsabschluss abzufragen ist.

Daraus würde für eine Anwaltssozietät das Erfordernis eines effektiven Informationssystems zur ordnungsgemäßen Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation und des Informationsaustauschs zwischen den Sozien folgen, das in der Verpflichtung zur Führung von Handakten in § 50 Abs. 1 BRAO bereits gesetzlich angelegt ist. Für das einzelne Mandat eingebrachtes oder erworbenes Fachwissen außerhalb von Rechtskenntnissen, aus nichtjuristischen Wissensgebieten wie beispielsweise Medizin, gehörte im Regelfall aber nicht zu dem in einer Sozietät notwendig auszutauschenden und in ein Informationssystem einzuspeisenden Wissen.

Stellte man in entsprechender Anwendung der Rechtsprechung des Senats zur Zurechnung von Kenntnis bei Behörden und öffentlichen Körperschaften auf die Zuständigkeitsregelung ab, wäre die Kenntnis des Sozius entscheidend, der ausdrücklich vom Mandanten beauftragt – etwa durch ein personenbezogenes Einzelmandat – oder sozietätsintern mit der eigenverantwortlichen Sachbearbeitung und Tatsachenermittlung betraut worden ist. Nach dem revisionsrechtlich zu unterstellenden Vortrag des Klägers könnte das medizinische Fachwissen von Rechtsanwalt U. nicht Rechtsanwalt S. zugerechnet werden.

Im Streitfall bedürfe die Frage der Wissenszurechnung jedoch keiner Entscheidung, da unabhängig von etwaigem vorhandenem medizinischem Fachwissen der Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis nicht mit der Begründung erhoben werden kann, die Prozessbevollmächtigten des Klägers hätten nach Eingang der Behandlungsunterlagen Ende September 2006 noch vor dem Jahresende diese Unterlagen prüfen und ihnen Hinweise auf schuldhaftes Fehlverhalten der Beklagten entnehmen müssen und können. Es könne nämlich von einem Patienten oder seinem Wissensvertreter grundsätzlich nicht erwartet werden, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin überprüft, es sei denn, es handelte sich um Feststellungen, die sich ohne weiteres treffen lassen, wie etwa die Feststellung der Namen der behandelnden Ärzte. Den Behandlungsunterlagen seien jedoch Hinweise auf Behandlungsfehler nur bei einer Analyse der Dokumentation unter Heranziehung besonderen Fachwissens aus dem Bereich der Gynäkologie zu entnehmen gewesen.

3. Kontext der Entscheidung

Der Kontext der Entscheidung besteht hier erstaunlicherweise sogar auch im eigenen Verfahrensverlauf. Nach dem LG Koblenz (Urt. v. 11.03.2015 – 10 O 103/10) erkannte das OLG Koblenz (Urt. v. 23.09.2015 – 5 U 403/15, vgl. Prelinger, jurisPR-​MedizinR 2/2016 Anm. 5), dass die Ansprüche verjährt seien. Der BGH (Urt. v. 08.11.2016 – VI ZR 594/15, vgl. Prelinger, jurisPR-​MedizinR 12/2017 Anm. 2) hob die Entscheidung auf und verwies die Sache an das Oberlandesgericht zurück, woraufhin das OLG Koblenz (Urt. v. 12.04.2017 – 5 U 403/15) nach weiterer Sachaufklärung weiterhin Verjährung annahm. Dies hatte nun erneut vor dem BGH keinen Bestand und führte zur Aufhebung und Zurückverweisung an das Oberlandesgericht zur erneuten Sachentscheidung.

Zunächst fällt in der aktuellen Entscheidung auf, dass der BGH anfänglich ausführt, dass das Anwaltsschreiben aus 2007 für den Fristbeginn ausreiche, da der Anwalt den Behandlungsfehler dort „angesprochen“ habe. Diese recht kurze Bemerkung hat aber weitreichende Konsequenzen, hinsichtlich derer unklar ist, ob der BGH damit ernsthaft meinte, dass alleine durch das „ansprechen“ eines Behandlungsfehlers eine Kenntnis vorliegt.

Da das Ausbleiben des Erfolgs ärztlicher Maßnahme seinen Grund in der Eigenart der Erkrankung oder aber in der Unzulänglichkeit ärztlicher Bemühungen haben kann, gehört zur Kenntnis der den Anspruch begründenden Tatsachen das Wissen, dass sich in dem Misslingen der ärztlichen Tätigkeit nicht das allgemeine Krankheitsrisiko, sondern das Behandlungsrisiko verwirklicht hat (BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08; BGH, Urt. v. 23.04.1991 – VI ZR 161/90). Hierzu genügt es nicht schon, dass der Patient Einzelheiten des ärztlichen Tuns oder Unterlassens kennt. Vielmehr muss ihm aus seiner Laiensicht der Stellenwert des ärztlichen Vorgehens für den Behandlungserfolg bewusst sein. Deshalb beginnt die Verjährungsfrist nicht zu laufen, bevor nicht der Patient als medizinischer Laie Kenntnis von Tatsachen erlangt hatte, aus denen sich ergab, dass der Arzt von dem üblichen ärztlichen Vorgehen abgewichen war oder Maßnahmen nicht getroffen hatte, die nach ärztlichem Standard zur Vermeidung oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich gewesen wären. Diese Kenntnis ist aber auch erst vorhanden, wenn die dem Anspruchsteller bekannten Tatsachen ausreichen, um den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten des Anspruchsgegners und auf die Ursache dieses Verhaltens für den Schaden als „naheliegend“ erscheinen zu lassen (BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08 m.w.N.).

Wenn eine Patientin oder deren Anwalt bloß einen Behandlungsfehler „anspricht“ oder lediglich „formulieren“ kann, folgt daraus noch keine positive Kenntnis, wie der BGH bereits zutreffend in seiner in diesem Verfahren vorangehenden Entscheidung selbst zutreffend erkannte. Dort führte der BGH aus (BGH, Urt. v. 08.11.2016 – VI ZR 594/15 Rn. 13, unter Hinweis auf Prelinger, jurisPR-​MedizinR 2/2016 Anm. 5):

„Diese Kenntnis ist erst vorhanden, wenn die dem Anspruchsteller bekannten Tatsachen ausreichen, um den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten des Anspruchsgegners und auf die Ursache dieses Verhaltens für den Schaden als naheliegend erscheinen zu lassen (BGH vom 10. November 2009 – VI ZR 247/08, VersR 2010, 214 Rn. 6 mwN). Allein die Vorwürfe der Mutter des Klägers im Gedächtnisprotokoll vom 4. August 2006 lassen nicht auf eine in diesem Sinne ausreichende Kenntnis eines vom Standard abweichenden ärztlichen Verhaltens schließen.“

„Vorwürfe“ allein reichen somit nicht aus. Vielmehr muss „Klarheit“ über den Behandlungsfehler und die Ursache bestehen, da sonst eine Feststellungsklage nicht zumutbar ist (BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08). Sicherlich gibt es Ausnahmefälle, bei denen sich ein Behandlungsfehler aufdrängt, z.B. wenn ein Neugeborenes zu wenig Sauerstoff erhält und nichts dagegen getan wird. In der Regel sind die Verdachtsmomente aber nicht so eindeutig und eine Einhaltung des Facharztstandards ist ebenso möglich. Aus dem Verdacht eine positive Kenntnis zu machen, würde gegen den klaren Gesetzeswortlaut verstoßen (dazu später).

Allerdings kann die Untätigkeit den Vorwurf grobfahrlässiger Unkenntnis begründen. Wie der BGH auch hier zutreffend ausführt, kommt es für die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Gläubiger zu einer aktiven Ermittlung gehalten ist, vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls an. Das Unterlassen einer Nachfrage ist nur dann als grob fahrlässig einzustufen, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Unterlassen aus der Sicht eines verständigen und auf seine Interessen bedachten Geschädigten als unverständlich erscheinen lassen. Für den Gläubiger müssten konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein und sich ihm der Verdacht einer möglichen Schädigung aufdrängen. Das Sichberufen auf die Unkenntnis muss als Förmelei erscheinen, weil jeder andere in der Lage des Geschädigten unter denselben konkreten Umständen die Kenntnis gehabt hätte (BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08).

Hier kommen regelmäßig zwei Handlungsmöglichkeiten in Betracht, die leider oftmals verkannt werden und immer wieder in der pauschalen These münden, die Patientin habe die Kenntnis nicht erst, wenn ihr ein Gutachten vorliege, sondern bereits bei einer Information, dass ein Behandlungsfehler vorliegen kann:

a) Für den Gläubiger müssen konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein und sich ihm der Verdacht einer möglichen Schädigung aufdrängen. Das Unterlassen einer solchen Nachfrage ist aber nur dann als grob fahrlässig einzustufen, wenn weitere Umstände hinzutreten, die dieses Verhalten aus der Sicht eines verständigen und auf seine Interessen bedachten Patienten als unverständlich erscheinen lassen (vgl. o.).

Selbst wenn die Patientin oder ihr Anwalt trotz des Verdachts untätig bleiben, wird der Fristbeginn dennoch nicht sofort, sondern erst für denjenigen Zeitpunkt angenommen, zu dem diese die positive Kenntnis hypothetisch gehabt hätte (BGH, Urt. v. 26.05.2020 – VI ZR 186/17; BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08; BGH, Urt. v. 16.07.2009 – IX ZR 118/08; OLG Bamberg, Beschl. v. 14.02.2014 – 4 U 62/13, dort Mai 2004 bis Ende 2004/Anfang 2005 = ca. 7 bis 8 Monate später bei fehlender Mitwirkung bei der Erstellung eines Gutachtens durch den MDK/MD).

b) Die Patientin, die sich sorgfältig verhält, indem sie dem Verdachtsmoment nachgeht, kann nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht schlechtergestellt werden als eine nachlässig handelnde Patientin. Hierzu zwingt schon das verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der Patientin, die nämlich das Recht hat, sich über ihren gesundheitlichen Zustand und die Ursachen einer Erkrankung zu informieren, ohne dass ihr vorgeworfen werden kann, dass sie diese Begutachtung nicht hätte abwarten dürfen.

Wenn sich die Patientin bzw. ihr Anwalt – wie oftmals – dafür entscheiden, dem Verdacht sorgfältig nachzugehen, insbesondere durch Einholung von Gutachten, dann ist dieses Handeln objektiv wie subjektiv konsequent und nachvollziehbar auf die Aufklärung des Verdachts gerichtet und kann somit keinesfalls mehr grob fahrlässig sein.

Gesetzlich besteht hierfür sogar mit § 66 SGB V ein eigenständiges öffentlich-​rechtliches Begutachtungssystem durch den Medizinischen Dienst (MD, vormals MDK). Die gesetzliche Krankenkasse hat aufgrund des hierfür eigens geschaffenen – und durch das Patientenrechtegesetz 2012 sogar von einer Soll-​Vorschrift zu einer Muss-​Vorschrift modifizierten – § 66 SGB V (vgl. BT-​Drs. 17/10488 v. 15.08.2012, S. 7, S. 13, S. 48) die Pflicht, auf entsprechenden Antrag der Versicherungsnehmerin ein Fachgutachten erstellen zu lassen (zur Verjährung beim überlangen Zuwarten auf das Gutachten des MDK gemäß § 66 SGB V vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 14.02.2014 – 4 U 62/13).

Hierzu zwingt im Übrigen auch das exorbitante Prozesskostenrisiko, bei dem neben den Anwaltskosten und dem Gerichtskostenvorschuss auch die Kosten für das stets einzuholende Gerichtsgutachten von regelmäßig nicht unter 2.500 Euro anfallen – ggf. mit weiteren erneut gleichhohe Kosten verursachenden Folgegutachten bezüglich der Kausalzusammenhänge mit weiteren Sekundärverletzungen. Die Zumutbarkeit ist übergreifende verfassungsrechtliche Voraussetzung für den Verjährungsbeginn (BGH, Urt. v. 28.10.2014 – XI ZR 348/13; BGH, Urt. v. 28.10.2014 – XI ZR 17/14; BGH, Urt. v. 15.06.2010 – XI ZR 309/09; BGH, Urt. v. 29.09.2012 – VIII ZR 240/11). Verfassungsrechtlich ist aber ein derartiges Kostenrisiko unzumutbar, wenn die Klägerin ihre Erfolgsaussichten nicht hinreichend beurteilen kann. Zwar braucht die Klage nicht risikolos zu sein, aber dieser Aspekt betrifft nur den üblichen Umstand, dass die Klagepartei nie genau die Beweiswürdigung gemäß den §§ 286, 287 ZPO vorhersehen kann und natürlich dieses beiläufige Restrisiko immer eingehen muss, aber eben nicht das zentrale Risiko einer Klage ins Blaue hinein, nur weil man die These eines Behandlungsfehlers „formulieren“ kann.

Zugleich können auch die gemäß § 4 Abs. 4 SGB V zur Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit verpflichteten gesetzlichen Krankenkassen ohne solche Gutachten des MDK/MD (vgl. § 275 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4, Satz 2 SGB V) im Massengeschäft nicht die Erfolgsaussichten einer Klage etwaiger nach § 116 Abs. 1 SGB X übergegangener Ansprüche beurteilen. Insbesondere nach Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes 2013 kam es zu einer exorbitanten Steigerung der Begutachtungsanträge von Versicherten, in denen auch oftmals haltlose Vorwürfe gegen Ärztinnen und Ärzte erhoben wurden, weil der – bekanntlich nicht geschuldete – erstrebte Erfolg nicht eintrat. Die Krankenkassen können hier ohne Gutachten des MD keinerlei Bewertung vornehmen und Prognosen erstellen. Schon gar nicht können sie ihrer gesetzlichen Verpflichtung zum sparsamen und wirtschaftlichen Handeln nachkommen, wenn auf jeden Verdacht hin gleich die Verjährungsfrist läuft und man im Zweifel auch ohne Gutachten unzählige kostenintensive Klagen mit zweifelhafter Erfolgsaussicht einreichen müsste.

c) Auch die prozessualen Darlegungserleichterungen (dazu vgl. BGH, Urt. v. 24.02.2015 – VI ZR 106/13; BGH, Beschl. v. 01.03.2016 – VI ZR 49/15) dienen nur der Wahrung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, nicht aber dazu, materiell-​rechtlich einen verfrühten Fristbeginn anzunehmen.

Das Gesetz sieht in § 199 Abs. 1 BGB nun einmal vor, dass der Patientin eine Frist von drei Jahren ab Schluss des für die Kenntnis maßgeblichen Jahres zur Verfügung stehen soll. Eine überhastete Verkürzung dieser Frist durch eine verfrühte Annahme des Verjährungsbeginns würde ihrerseits zu einer Verletzung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG führen. Die fehlende Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände kann insbesondere auch nicht durch das pauschale Argument der vermeintlichen Zumutbarkeit der Klageerhebung bereits bei Bestehen eines „Verdachts“ eines Behandlungsfehlers ersetzt werden. Soweit in der Rechtsprechung auf die Frage der Zumutbarkeit für den Verjährungsbeginn abgestellt wird, betrifft dies nur die Frage, ob bei einer Kenntnis von allen anspruchsbegründenden Umständen dennoch die Verjährung nicht beginnt, weil eine Klageerhebung trotz dieser Kenntnis noch unzumutbar sein könnte (Piekenbrock in: BeckOGK, Stand: 01.08.2020, § 199 BGB Rn. 131 ff.). Demgegenüber beginnt die Verjährung ohne die erforderliche Kenntnis nicht zu laufen, auch wenn eine Klageerhebung wegen eines Verdachts stattdessen denkbar wäre. Dieser Ansicht steht bereits der klare Wortlaut des § 199 BGB entgegen (sehr passend zum „Dieselskandal“ LG Hildesheim, Urt. v. 09.10.2020 – 4 O 300/19 Rn. 28).

Die prozessualen Darlegungserleichterungen würden die gesetzlichen Anforderungen an den Verjährungsbeginn gemäß § 199 Abs. 1 BGB obsolet machen, wenn man in jedem Fall statt einer positiven Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis bereits eines solche „Vermutung“ für den Fristbeginn ausreichen ließe. Es käme im Arzthaftungsrecht gesetzeswidrig zu einem kenntnisunabhängigen Verjährungsbeginn, womit der Verlust der Durchsetzungsmöglichkeit allein durch Zeitablauf droht. Diese Folge widerspricht der aus der Regelung in § 199 BGB zu entnehmenden Grundentscheidung des Gesetzgebers, den Lauf der Verjährung mit der Kenntniserlangung des Geschädigten zu verknüpfen (BGH, Urt. v. 28.02.2012 – VI ZR 9/11 Rn. 21).

Dass die Patientin somit bereits dann eine positive Kenntnis haben soll, wenn sie ohne die vom BGH geforderten weiteren Kenntnis von den maßgeblichen Details (Facharztstandard, pflichtwidrige Abweichung hiervon, haftungsbegründende Kausalität bzw. Beweislastumkehr wegen groben Behandlungsfehlers, Verschulden, vgl. o.) den Behandlungsfehler „anspricht“, wäre äußerst zweifelhaft.

Hiernach stellte sich die Frage, ob eine den Verjährungsbeginn auslösende grobfahrlässige Unkenntnis vorlag. Da es im vorliegenden Fall nicht auf die Person der Patientin ankam, sondern ihres Anwalts, diskutierte der BGH die denkbaren Zurechnungskriterien.

Hierbei wurde zunächst erörtert, ob das von einem anderen Anwalt der Soziatät in einem ganz anderen Verfahren 2006 schriftsätzlich geäußertes „Fachwissen“ dem für die hier klagende Patientin zuständigen Anwalt der Sozietät zuzurechnen ist. Der BGH lehnt dies zutreffenderweise ab, da dieser Partner eben gerade nicht zuständiger Anwalt der klagenden Patientin und damit zweifelsohne nicht Wissensvertreter i.S.d. § 166 Abs. 1 BGB ist. Etwas verwunderlich ist, wie eine solche Zurechnung überhaupt denkbar sein könnte, denn jeder Mensch ist verschieden, so dass Kenntnisse aus einem anderen Arzthaftungsmandat nicht auf einen Sachverhalt einer weiteren Patientin bzw. Mandantin übertragbar sein können.

Der BGH gelangte hiernach zu der zutreffenden Erkenntnis, dass die für die Wissenszurechnung bestehenden Grundsätze für eine Anwaltssozietät das Erfordernis eines effektiven Informationssystems zur ordnungsgemäßen Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation und des Informationsaustauschs zwischen den Sozien erfordern würde, das in der Verpflichtung zur Führung von Handakten in § 50 Abs. 1 BRAO bereits gesetzlich angelegt ist. Für das einzelne Mandat eingebrachtes oder erworbenes Fachwissen aus nichtjuristischen Wissensgebieten wie der Medizin gehöre im Regelfall aber nicht zu dem in einer Sozietät notwendig auszutauschenden und in ein Informationssystem einzuspeisenden Wissen.

Dem ist ebenfalls zuzustimmen. Es wäre völlig undenkbar, dass überhaupt eine Kanzlei ein solches System schaffen könnte, da jeder Einzelfall medizinisch völlig verschieden ist. Zudem könnte ein Anwalt kaum dieses System prozessual darlegen, ohne die Schweige- und (Gesundheits-​)Datenschutzpflicht zu verletzen (§ 203 Abs. 1 StGB, § 43a Abs. 1 BRAO, Art. 9 Abs. 1 DSGVO).

Der BGH führt weiterhin aus, dass die Kenntnis des Sozius entscheidend wäre, der ausdrücklich vom Mandanten beauftragt oder sozietätsintern mit dem Mandat betraut worden ist. Diese Ausführungen verwundern etwas, weil sie implizieren (der genaue Wortlaut des Anwaltsschreibens wurde nicht veröffentlicht), dass Anwälte über medizinisches Fachwissen – und das auch noch in dem für das jeweilige Mandat maßgeblichen Fachgebiet – verfügen. Das kann nicht richtig sein, weil der Anwalt regelmäßig über keinerlei medizinische Ausbildung verfügt und nur verpflichtet ist, die ihm zugetragenen Erkenntnisse juristisch auf ihre materiell-​rechtliche Schlüssigkeit auszuwerten. Es ist zweifelsohne nicht Bestandteil des Mandatsvertrags, dass der Anwalt über medizinische Fachkenntnisse verfügen muss. Ein Anwalt müsste dann mehr können als ein Arzt, der auch nur in wenigen Fachgebieten über vertiefte Fach(arzt)kenntnisse verfügen kann.

Dieses Risiko wäre auch nicht in der anwaltlichen Berufshaftpflichtversicherung versichert, denn dort ist nur die unabhängige Beratung und Vertretung in Rechtsangelegenheiten als klassische Tätigkeit des Rechtsanwalts versichert, wie sie auch in § 3 BRAO beschrieben ist (BGH, Beschl. v. 18.03.2020 – IV ZR 43/19; BGH, Beschl. v. 23.09.2015 – IV ZR 484/14).

Auch würde der Verjährungsbeginn von der Qualifikation des mandatierten Anwalts abhängen. Wenn die Patientin nämlich einen Anwalt ohne Kenntnisse im Arzthaftungsrecht mandatiert – die freie Anwaltswahl ist verfassungsrechtlich und auch in § 3 Abs. 3 BRAO besonders geschützt und eignet sich daher auch nicht als Argument einer „falschen“ Anwaltswahl der Patientin –, der sich erst lange in die Materie einarbeiten muss, dann würde es dadurch zu einer der Patientin zufällig günstigen Verzögerung der positiven Kenntnis kommen. Der fachlich weniger versierte Anwalt würde somit gegenüber dem spezialisiertem Anwalt besser gestellt.

Dass es nicht auf fachliche Erfahrungen des Anwalts ankommen kann, wird besonders deutlich bei einem Vergleich mit der Richterschaft. Regelmäßig verfügen auch die Richterinnen und Richter nicht über medizinisches Fachwissen, weshalb sie in Arzthaftungsprozessen verpflichtet sind, sich medizinischer Gutachter zu bedienen (BGH vom 09.01.2018 – VI ZR 106/17; BGH, Beschl. v. 13.01.2015 – VI ZR 204/14). Hiernach wäre unverständlich, weshalb dann vom Anwalt vorgerichtlich mehr gefordert werden könnte.

Letztlich brauchte der BGH die Frage der anwaltlichen Wissenszurechnung nicht zu entscheiden, da eine Kenntnis im konkreten Fall ohnehin nicht vorgelegen hätte. Denn nach der Rechtsprechung kann von einem Patienten oder seinem Wissensvertreter grundsätzlich nicht erwartet werden, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin überprüft, es sei denn, es handelte sich um Feststellungen, die sich ohne weiteres treffen lassen, wie etwa die Feststellung der Namen der behandelnden Ärzte (BGH, Urt. v. 29.11.1994 – VI ZR 189/93; BGH, Urt. v. 16.05.1989 – VI ZR 251/88). Hierbei führte der BGH verdeutlichend aus, dass den Behandlungsunterlagen Hinweise auf Behandlungsfehler nur bei einer Analyse der Dokumentation unter Heranziehung „besonderen Fachwissens“ aus dem Bereich der Gynäkologie zu entnehmen gewesen wären, so dass eine Unkenntnis nicht auf grober Fahrlässigkeit beruhte.

Hiermit hat der BGH eine wichtige Weichenstellung vorgenommen. Geht es – wie regelmäßig – um besonderes Fachwissen, ist es nicht grob fahrlässig, wenn der Anwalt oder die Patientin die Behandlungsunterlagen nicht medizinisch auswerten können. Wird für die Auswertung – wie regelmäßig – medizinisches Fachwissen benötigt, kann eine grob fahrlässige Unkenntnis allenfalls dann denkbar sein, wenn keine weiteren Schritte veranlasst werden, um sich diese Kenntnis zu verschaffen, z.B. indem ein Gutachten eingeholt wird, insbesondere nach § 66 SGB V.

4. Auswirkungen für die Praxis

Der Entscheidung ist vollumfänglich zuzustimmen. Die Entscheidung verhindert eine Zurechnung nicht am konkreten Mandat beteiligter Anwältinnen und Anwälte und die Schaffung eines kanzleiinternen Informationssystems, das vermutlich auch gegen die gesetzliche Schweigepflicht des Anwalts bzw. der Kanzlei und den besonders strengen Schutz der Gesundheitsdaten verstoßen würde. Zudem könnten dann Geschäftsgeheimnisse der Kanzlei offenbart werden.

Für die Praxis besteht Klarheit, dass der BGH an seiner Rechtsprechung aus 1989 und 1994 weiterhin festhält, dass von einem Patienten oder seinem Wissensvertreter grundsätzlich nicht erwartet werden kann, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin überprüft. Die Kenntnis vom Inhalt der Behandlungsunterlagen führt somit nicht per se zu einer positiven Kenntnis, wenn für die Auswertung – wie regelmäßig – besonderes Fachwissen erforderlich ist. Dann wäre nur das Unterlassen weiterer Maßnahmen zur Verschaffung der Kenntnis möglicherweise unverständlich und damit grob fahrlässig. Letzterenfalls würde die Verjährungsfrist zu dem Zeitpunkt beginnen, zu dem die Patientin bei Veranlassung dieser Maßnahmen die Kenntnis gehabt hätte (vgl. o.). Werden hingegen pflichtgemäß weitere Aufklärungsbemühungen durchgeführt, insbesondere Gutachten eingeholt, dann liegt die Kenntnis denklogisch erst vor, wenn die Patientin oder ihr Anwalt das Gutachten erhalten. Ist das Gutachten nach juristischer Auswertung lückenhaft, muss auf eine zeitnahe Ergänzung hingewirkt werden.

Mittelbar geht hieraus aber auch hervor, dass die prozessualen Darlegungserleichterungen nicht zu einer positiven Kenntnis führen, nur weil man einen bloßen Verdacht eines Behandlungsfehlers behaupten könnte. Dieses oftmals von den Gerichten angeführte Argument würde zu einem kenntnisunabhängigen Verjährungsbeginn und somit zu einer Aushöhlung der gesetzlichen Anforderungen an den Verjährungsbeginn gemäß § 199 Abs. 1 BGB führen (vgl. o.). Die abgemilderten Darlegungsvoraussetzungen können somit nur in den Fällen eine Rolle spielen, in denen die Patientin trotz Verdachts keine weiteren Aufklärungsmaßnahmen veranlasst und dennoch Klage erhebt, da sie nur dann auf die abgemilderten Darlegungsanforderungen angewiesen ist.

Etwas beunruhigend bleibt, wie der BGH zur der – hier mangels Entscheidungserheblichkeit im Raum stehengelassenen – Frage, ob das „Fachwissen“ des zuständigen Anwalts der Kanzlei aus einer anderen Angelegenheit zu einer positiven Kenntnis führen kann, erkannt hätte. Der Anwalt hat regelmäßig kein medizinisches Fachwissen und kann nur eine juristisch-​dogmatische Bewertung der Erkenntnisse über diese konkrete Mandantin vornehmen (vgl. o.). Da alle Menschen unterschiedlich sind, sind auch die jeweiligen medizinischen Behandlungsanforderungen fast nie vergleichbar, so dass auch die Behandlungsfehler nicht vergleichbar sind. Somit sind die Erfahrungen des Anwalts regelmäßig auch nicht auf einen anderen Fall übertragbar. Die Ausnahmen hiervon dürften gering sein, aber sich ohnehin nicht nachweisen lassen, da dies dazu zwingen würde, dass der Anwalt die vormalige Angelegenheit und sein „Fachwissen“ daraus genau darlegt – was gegen seine Verschwiegenheits- und (Gesundheits-​)Datenschutzpflicht verstieße. Nach § 43a Abs. 2 Satz 2 BRAO bezieht sich die Verschwiegenheitspflicht auf „alles“, was ihm in Ausübung seines Amtes bekannt geworden ist.

© juris GmbH

Autor

Wolfdietrich Prelinger, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Verkehrsrecht, Fachanwalt für Versicherungsrecht


Erscheinungsdatum

25.11.2021


Anmerkung zu

BGH, Urteil vom 26.05.2020 – VI ZR 186/17



Quelle


Fundstelle

jurisPR-MedizinR 11/2021 Anm. 1


Herausgeber

Möller und Partner – Kanzlei für Medizinrecht


Zitiervorschlag

Prelinger, jurisPR-MedizinR 11/2021 Anm. 1


Gesundheitsforen Leipzig am 23. September 2021: Tagungsvortrag »Aktuelle relevante Rechtsprechung zum Bereich § 116 SGB X«

Die Gesundheitsforen Leipzig als Dienstleister im Gesundheitswesen https://www.gesundheitsforen.net veranstalteten den jährlichen "FOKUSTAG Einnahmemanagement - Ersatzansprüche nach § 116 SGB X in der Krankenversicherung". Daher war es mir wieder eine besondere Freude, auch dieses Jahr wieder aktiv mit dabei sein zu können und zu aktuellen Themen in diesem Bereich zu referieren. Folgende gerichtliche Entscheidungen und sonstige Themen waren Gegenstand des Vortrags:

  • BGH, Urteil v. 19.01.2021 – VI ZR 125/20: Geltung des § 116 SGB X für mitversicherte Personen
  • LG Coburg, Urteil v. 16.09.2020 – 13 O 545/16: Beweislast des Sozialversicherungsträgers - "Actineo"-Light?
  • § 76 Abs. 2 Nr. 1a SGB X: Verwertbarkeit zugänglich gemachter medizinischer Unterlagen
  • OLG Nürnberg, Urteil v. 5.11.2020 – 13 U 2653/18: Ein Primärschaden liegt auch bei Kopf- und Nackenschmerzen vor
  • OLG Nürnberg, Urteil v. 20.08.2020 –13 U 1187/20: Mitverschulden - Weiterhin keine Helmpflicht für Radfahrer
  • OLG Celle, Urteil v. 07.04.2021 – 14 U 134/20: Trifft den SVT eine Schadensminderungspflicht?
  • BGH, Urteil v. 10.11.2020 – VI ZR 285/19: Ein Verjährungsverzicht führt nicht zum Neubeginn der Verjährung
  • OLG München, Beschluss v. 16.10.2020 – 24 U 4446/20: Ein Verjährungsverzicht erfasst regelmäßig wiederkehrende Leistungen
  • OLG Frankfurt, Beschluss v. 14.04.2021 – 22 U 15/21: Regelmäßig wiederkehrende Leistungen verjähren außergerichtlich wie die sonstigen Schadenspositionen
  • LG Köln, Urteil v. 14.08.2020 – 7 O 286/19: Gelten Teilungsabkommen für den Rechtsnachfolger?

Das Script habe ich hier hinterlegt: Prelinger_Vortrag_2021-ENDFASSUNG-21.9.21


Bestimmt jetzt allein der Schädiger, welche Unterlagen vorprozessual erforderlich sind? - AG Hechingen, Urteil vom 16.02.2021 - 6 C 180/20

HINWEIS:

Diese Entscheidung wurde uns in einem anhängigen Rechtsstreit von der Gegenseite vorgelegt. Auch sie entspricht NICHT den höchtrichterlichen Vorgaben zur Schlüssigkeit des Klagevortrags, für den bereits die Vorlage des Ausrucks nach § 301 SGB V ausreicht.

Nach dieser Entscheidung könnte der Schädiger einseitig bestimmen, welche Unterlagen ihm vorprozessual vorzulegen sind. Das Gericht verkennt völlig, dass die Haftpflichtversicherung nicht einmal vortrug, weshalb sie ohne den im Prozess nachgreichten Bericht den Schaden nicht vorher habe regulieren können bzw. welche erst in dem Bericht verbriefte Erkenntnis ausschlaggebend gewesen sein soll. Ad absurdum könnte die Haftpflichtversicherung sonst auch künftig die aussergerichtliche Regulierung von der Vorlage aller Behandlungsunterlagen der vor- und nachbehandelnden Ärzte und Krankenhäuser anhängig machen.

______________________________________________________

Aktenzeichen: 6 C 180/20

Amtsgericht Hechingen

Im Namen des Volkes

Anerkenntnisurteil

In dem Rechtsstreit ...

wegen Schadensersatzes

hat das Amtsgericht Hechingen durch die Richterin am Landgericht am 16.02.2021 ohnemündliche Verhandlung gemäß § 307 Satz 2 ZPO für Recht erkannt:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 455,60 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 20.06.2020 zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von außergerichtlich angefallenen und nicht anrechenbaren Rechtsanwaltskosten in Höhe von 196,62 €

3. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

4. Das Urteil ist vorläufig

 

Beschluss: Der Streitwert wird auf 1.455,60 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die klagende Krankenversicherung nimmt bei der beklagten Haftpflichtversicherung Regress für Behandlungskosten der ... , die als Beifahrerin bei einem Verkehrsunfall mit ei- nem bei der Beklagten versicherten PKW am 10.09.2019 verletzt und im Anschluss im Zol- lern-Alb-Klinikum Balingen behandelt wurde.

Mit Schreiben vom 30.01.2020 (Fahrtkosten Rettungswagen, K4) und 24.03.2020 (Krankenhaus, K2) forderte die Klägerin die Beklagte zur Zahlung auf. Zugleich wurde ein Auszug der polizeili- chen Ermittlungsakte überlassen. Außergerichtlich und mit der Klage wurde der sogenannte „Grouper- Ausdruck“ vom 16.04.2020 als K1 vorgelegt. Am 29.05.2020 forderte der Klägervertre- ter die Beklagte unter Fristsetzung bis 19.06.2020 erfolglos zur Zahlung auf.

Mit Schriftsatz vom 13.01.2021 legte die Klägerin den Entlassbrief des Klinikums als Anlage K8 vor. Mit Schriftsatz vom 03.02.2021 gab die Beklagte daraufhin ein „sofortiges Anerkenntnis“ ab.

Die Klägerin ist der Auffassung, die Ansprüche seien bereits mit der Klageschrift (Anlage K1- K5, insbesondere dem Grouper- Ausdruck, K1) und vorgerichtlich ausreichend belegt gewesen, weshalb ein sofortiges Anerkenntnis nicht vorliege und die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen habe.

Die Beklagte ist der Ansicht, es handele sich um ein sofortiges Anerkenntnis, weshalb die Kläge- rin die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hätte.

Die Beklagte hatte zunächst unter Ankündigung des Antrages, die Klage abzuweisen, bestritten, dass die eingeklagten Kosten unfallbedingt entstanden sind. Aus den im Januar 2020 vorgelegten Unterlagen sei eine Beteiligung der behandelten Person am Unfall nicht erkennbar gewesen. Zwar habe die Klägerin auf Aufforderung am 16.04.2020 einen Auszug der Krankenakte, nicht jedoch den Entlassungsbericht des stationären Aufenthaltes übersandt. Erst mit diesem im Verfahren überlassenen habe die unfallbedingte Erforderlichkeit der geltend gemachten Aufwendungen nachvollzogen werden können.

 

Entscheidungsgründe

In der Hauptsache war die Beklagte entsprechend ihres Anerkenntnisses antragsgemäß zu verur- teilen, § 307 ZPO.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 93 ZPO. Die Kosten sind danach von der Klägerin zu tra- gen, denn die Beklagte hat keine Veranlassung zur Klage gegeben und den Anspruch, nachdem er schlüssig dargelegt und belegt worden ist, sofort im Sinne von § 93 ZPO anerkannt.

1. Die Beklagte hat das Anerkenntnis sofort i.S.d. § 93 ZPO erklärt.

„Sofort“ setzt in der Regel voraus, dass er die erste sich bietende prozessuale Möglichkeit gegen- über Gericht und Prozessgegner wahrnimmt (MüKoZPO/Schulz, 6. Aufl. 2020, ZPO § 93 Rn.12). Die Beklagte hatte zwar im Rahmen des angeordneten schriftlichen Vorverfahrens bereits Vertei- digungsbereitschaft angezeigt und in der Klageerwiderung unter Ankündigung des Klageabwei- sungsantrages den geltend gemachten Anspruch bestritten. Dies allerdings mit Verweis darauf, dass der Anspruch bei Vorlage der geforderten Befundberichte jederzeit geprüft werden solle.

Solange der Kläger sein Recht, ggf. trotz Aufforderung seitens des Beklagten, nicht substantiiert dargelegt und durch beweiskräftige Unterlagen belegt hat, kann letzterer sogar noch nach Be- weisaufnahme, ohne Anlass zur Klageerhebung gegeben zu haben, mit der Kostenfolge des § 93 „sofort“ anerkennen (MüKoZPO/Schulz, 6. Aufl. 2020, ZPO § 93 Rn. 24).

Das Gericht hatte mit Verfügung vom 17.11.2020 darauf hingewiesen, dass die Klägerin ihrer Darlegungs- und Beweislast bislang nicht ausreichend nachgekommen war. Als die Klägerin am 13.01.2021 den endgültigen Arztbrief des Krankenhauses als Anlage K8 vorlegte, der der Beklagten mit Verfügung vom 25.01.2021 überlassen wurde, erklärte die Beklagte unmittelbar am 03.02.2021, die Forderung anzuerkennen.

2. Die Beklagte hat auch keinen Anlass zur Klage gegeben.

Die Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Kläger vernünftigerweise einen Prozess nicht für notwendig hat halten dürfen, um zu seinem – geltend gemachten – Recht zu kommen. Maßgeblich für die Beurteilung dieser Frage ist der Zeitpunkt des Eingangs der Klage bei Gericht (BeckOK ZPO/Jaspersen ZPO § 93 Rn. 25 f.).

Die Klage datiert auf den 14.08.2020 und ging am 19.08.2020 bei Gericht ein. Die Aufforderung der Beklagten, Behandlungsunterlagen zur Prüfung der Forderung vorzulegen, ergibt sich aus Schreiben von Februar, März und April 2020 (B 2, B 4, B 5).

Hält der Beklagte vorprozessual die gegnerische Forderung für teilweise oder insgesamt nicht schlüssig bzw. nicht nachvollziehbar, darf er nicht pauschal die Leistung verweigern, sondern hat deutlich zu machen, welche Angaben oder Unterlagen er benötigt; werden ihm diese vorenthal- ten, fehlt es an einem Klageanlass (MüKoZPO/Schulz, 6. Aufl. 2020, ZPO § 93 Rn. 8). Dies ist geschehen (s.o.). Behandlungsunterlagen in Form eines Arztbriefes oder Entlassberichts wurden von der Klägerin vorgerichtlich nicht vorgelegt.

Zwar war der Grouper-Ausdruck (Ausdruck der nach dem diagnose-orientierten Fallpauschalen- system computergestützt ermittelten und übermittelten Krankenhausabrechnung) als K1 bereits mit der Klage und wohl auch schon vor Einleitung des streitigen Verfahrens vorgelegt. Aus diesem ergibt sich indes nicht, wie etwa die behandelte Person, die gegenüber der Beklagten in kei- nem anderen Zusammenhang in Erscheinung trat, in ein Unfallgeschehen verwickelt war. Zudem mag er den Anspruch der Höhe nach für die einzelnen Positionen belegen, für die Haftung dem Grunde nach, d.h. etwa für die unfallbedingt eingetretene Primärverletzung, enthält er jedoch keine Anhaltspunkte.

Das Urteil finden Sie als PDF hier: Anerkenntnisurteil_AG_Hechingen


Die Vorlage des Ausdrucks gemäß § 301 SGB V genügt für die Darlegung der Krankenhauskosten - AG Reutlingen, Urteil vom 21.04.2021 - 13 C 654/20

Das Urteil als PDF finden Sie hier: AG Reutlingen_geschwärzt

 

Aktenzeichen:  13 C 654/20

Amtsgericht Reutlingen

Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Rechtsstreit

….

wegen übergegangenen Schadensersatzes

hat das Amtsgericht Reutlingen durch die Richterin am Amtsgericht … aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24.03.2021 für Recht erkannt:

  1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin anlässlich des Verkehrsunfalls vom …. einen Betrag in Höhe von … € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit … zu
  2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu
  3. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig
  4. Streitwert: … €

Tatbestand

Die Klägerin nimmt die Beklagten aus übergegangenem Recht auf Ersatz bereits entstandener Aufwendungen für die bei ihr gesetzlich krankenversicherte ...  in Anspruch.

Am 24. August 2019 verließ die Mutter der am … geborenen mit … zwischen 19:00 Uhr und 20:00 Uhr das Grundstück ihrer Schwester in Reutlingen.  Solange die Mutter von  … das Gartentor schloss, versteckte sich … zwischen den neben dem Gehweg am Straßenrand parkende Fahrzeugen und lief schließlich auf die Fahrbahn. Dort wurde sie von dem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Kraftfahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen … erfasst, dass von der Zeugin … gesteuert wurde. … wurde nach dem Unfall ins Kreiskrankenhaus Reutlingen verbracht und dort in der Zeit vom 24. August 2019 bis zum 26. August 2019 vollstationär behandelt. Diagnostiziert wurden eine Prellung und ein Hämatom der Niere infolge eines Verkehrsunfalls. Für die Behandlung sind der Klägerin Kosten in Höhe von insgesamt … € entstanden.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass mit der Überlassung der Grouper-Ausdrucke nebst Belegen der Vollbeweis über den der Klägerin entstandenen Schaden erbracht ist, da es sich bei dem Grouper nicht um eine von der Klägerin selbst erstellte Forderungsaufstellung handle, sondern um die Abrechnungsgrundlage und deshalb im Rahmen der gesetzlich festgeschriebenen Krankheitskostenabrechnung im stationären Bereich um die Rechnung selbst handle. Da die Klägerin verpflichtet gewesen sei, die stationäre Krankenhausbehandlung von …zu vergüten, habe die Beklagte die in Rechnung gestellten Beträge zu erstatten.

Die Klägerin beantragt, wie erkannt.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, … sei plötzlich auf die Fahrbahn gerannt als sich die Versiche rungsnehmerin der Beklagten auf Höhe des Pkws befunden habe, hinter dem sich … versteckt hatte, weshalb die Zeugin trotz unverzüglicher Reaktion einen leichten Anstoß nicht habe verhindern können. Da die Mutter von ...  es zugelassen habe, dass sich zwischen Fahrzeugen versteckt und unbeaufsichtigt auf die Straße läuft, hafte die Beklagte lediglich aus der Betriebsgefahr des versicherten Fahrzeuges. Den Unfall habe jedoch allein die Mutter von … verschuldet, da es grob fahrlässig gewesen sei, dass erst drei Jahre alte Kind alleine im Straßenverkehr spielen zu lassen. Hinter dem groben Verschulden der Mutter trete die Haftung der Beklagten aus Betriebsgefahr vollständig zurück, so dass im Innenverhältnis allein die Mutter des Kindes  hafte, die sich im Verhältnis zur Klägerin auf das Familienprivileg nach § 116 Abs. 6 SGB X berufen könne. Diesen Einwand könne die Mutter gegenüber der Beklagten im Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB geltend machen, so dass insoweit die Voraus setzungen der gestörten Gesamtschuld gegeben seien, weshalb sich die Beklagte, die einen Ausgleichsanspruch gegen die Mutter hätte, auf das Familienprivileg nach § 116 Abs. 6 SGB X gegenüber der Klägerin berufen könne. Ein Anspruch bestehe deshalb schon dem Grunde nach nicht. Jedenfalls aber beschränke sich der Regressanspruch auf Ersatz der erforderlichen Behandlungskosten. Der nur leichte Anstoß beweise nicht, dass … tatsächlich verletzt wurde. Bei den gestellten Diagnosen handle es sich lediglich um Verdachtsdiagnosen, da äußere Verlet­ zungsanzeigen wohl nicht vorhanden gewesen seien. Eine ärztliche und stationäre Behandlung sei deshalb nicht erforderlich gewesen.

Es wurde Beweis erhoben zum Unfallhergang durch Vernehmung der Zeugen … und … Wegen der Aussage der Zeugen wird auf das Sitzungsprotokoll vom 24. Februar 2021 (BI. 83 der Akten), wegen der Aussage der Zeugin … auf die gerichtliche Niederschrift vom 24. März 2021 (BI. 89 der Akten) verwiesen.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Klägerin steht gegen die Beklagte der geltend gemachte Anspruch aus übergegangenem Recht in Höhe von restlichen 2.378,38 € zu gemäß § 116 Abs. 1 SGB X i.V.m. §§ 7, 11 StVG, 3 PflVersG.

Eine Anspruchskürzung braucht sich die Klägerin nicht entgegenhalten zu lassen.

Die grundsätzliche Haftung der Beklagten unter dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr gemäß §§ 7 StVG, 3 PflVersG für die Folgen des Verkehrsunfalls vom 24. August 2019, bei dem es zu einer Kollision mit dem von der Versicherungsnehmerin … der Beklagten geführten und bei der Beklagten haftpflichtversicherten Kraftfahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen kam, ist unstreitig.

Da im Verhältnis zwischen der Versicherungsnehmerin der Beklagten und dem verunfallten Kind § 17 Abs. 3 StVG keine Anwendung findet, kommt es auf die Frage einer eventuellen Unabwendbarkeit des Unfalls für die Versicherungsnehmerin der Beklagten nicht an.

Die Beklagte kann der Klägerin auch kein anspruchsminderndes Mitverschulden des Kindes und/oder von dessen Mutter entgegenhalten.

aa.) Da … im Zeitpunkt des Unfalls erst dreieinhalb Jahre alt war, haftet das Kind selbst nicht (§§ 828 Abs. 1,254 BGB).

bb.) Die Klägerin muss sich aber auch kein Mitverschulden der Mutter von … unter dem Ge­ sichtspunkt des gestörten Gesamtschuldnerausgleichs anrechnen lassen. Dieser Gesichtspunkt käme nur dann zum Tragen, wenn die Mutter von … ihrer Tochter neben der Beklagten haften würde, da nur dann ein Gesamtschuldverhältnis vorläge, das dadurch gestört werden könnte, dass das Gesetz in Abweichung von dem Grundsatz des § 840 BGB den privilegierten Mitschädiger, hier die mit … in einer häuslichen Gemeinschaft lebende Mutter, von seiner Haftung freistellt (BGH NJW 1988, 2667).

Vorliegend fehlt es jedoch an einer Mithaftung der Mutter von … Eine Mithaftung der Mutter kommt vorliegend nur unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Aufsichtspflicht in Betracht. Hierfür ist jedoch erforderlich, dass die Mutter von … ihre Aufsichtspflicht grob fahrlässig verletzt hat, da insoweit der Haftungsmaßstab der§§ 1664, 277 BGB zugrunde zu legen ist. Eltern haften bei Ausübung der elterlichen Sorge ihrem Kind gegenüber nur für die Sorgfalt, die sie in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegen. Gemäß § 277 BGB sind sie folglich nur von  der Haftung wegen grober Fahrlässigkeit nicht befreit. Da der Wortlaut des § 1664 BGB Aufsichtspflichtverletzungen nicht ausnimmt, findet das Haftungsprivileg des § 1664 BGB auch auf die Aufsichtspflicht als den zentralen Bereich der elterlichen Sorge Anwendung (Palandt, § 1664 Rn. 3). Die Haftungsprivilegierung des § 1664 BGB greift jedoch nur im Verhältnis zum Kind, um den Familienfrieden zu sichern, während im Verhältnis zu geschädigten Dritten bei Verletzung der Aufsichtspflicht grundsätzlich auch bei Fahrlässigkeit gehaftet wird (§ 832 BGB). Eine Einschränkung des Haftungsmaßstabs des § 1664 BGB findet deshalb lediglich dort statt, wo der aufsichtspflichtige Elternteil das Kind im Straßenverkehr bei der Führung eines Kraftfahrzeuges verletzt (MünchKomm/BGB, § 1664 Rn. 10).

An einer derartigen Konstellation fehlt es jedoch vorliegend.. Die Mutter von … war selbst nicht am Straßenverkehr beteiligt und hat deshalb auch nicht gegen straßenverkehrsrechtliche Pflichten verstoßen. Auch wenn … im Straßenverkehr verletzt wurde, erfolgte eine etwaige Verletzung der Aufsichtspflicht ihrer Mutter nur im Zusammenhang mit dem Verlassen des Haus­ grundstücks. Beim Verlassen des Hausgrundstücks fällt der Mutter von …  jedoch keine grobe Fahrlässigkeit zur Last, § 277 BGB. Es stellt zwar ein fahrlässiges Verhalten dar, nicht zu verhindern, dass ein dreieinhalbjähriges Kind sich zwischen Autos verstecken und auf die Straße laufen kann, hierdurch wurde aber die verkehrserforderliche Sorgfalt nicht in besonders schwerem Maße verletzt.

Der Umfang der gebotenen Aufsicht über Minderjährige bestimmt sich nach deren Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen danach richtet, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation tun müs5,en, um Schädigungen zu verhindern (BGH NJW 2013, 1441). Das Maß der geschuldeten Aufsicht erhöht sich mit der Gefahrträchtigkeit der konkreten Situation. Spielen Kinder in der Nähe von Straßen oder in der Nähe gefährlicher Gegenstände, ist mehr Aufsicht angebracht als inner­ halb eines abgegrenzten, risikoarmen Bereichs (MünchKomm/BGB, § 1631 Rn. 8). Kleinkinder bedürfen ständiger Aufsicht, damit sie sich nicht Gefahren in ihrer Umgebung aussetzen, die sie aufgrund ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit noch nicht erkennen und beherrschen können. Diese Gefahren sind für sie allgegenwärtig; sie können schon aus Gegebenheiten erwachsen, die für jeden anderen gänzlich ungefährlich sind (BGH NJW 1994, 3348). Daher gesteht die Rechtsprechung Kindern erst ab einem Alter von vier Jahren einen Freiraum zu, wobei allerdings eine regelmäßige Kontrolle in kurzen Zeitabständen für erforderlich gehalten wird (BGH NJW 2009, 1952).

Auch wenn die Mutter von … unter Berücksichtigung dieser Grundsätze dem Kind keinen Freiraum gewähren durfte, sondern jederzeit die Möglichkeit haben musste, auf sie einzuwirken, so fällt ihr gleichwohl keine grobe Fahrlässigkeit zur Last, denn Voraussetzung für das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit ist, dass die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in einem besonders schweren Maße verletzt wird, nämlich so, dass schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden und dasjenige nicht beachtet wird, was in dem gegebenen Fall jedem einleuchten musste. Ein derart grobes Verschulden hat die insoweit beweispflichtige Beklagte nicht nachgewiesen.Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fällt der Mutter von … lediglich einfache Fahrlässigkeit zur Last.

Insoweit hat die Zeugin glaubhaft geschildert, dass sie mit  zum Spielplatz gehen wollte und deshalb beim Verlassen des Gartens noch das Gartentor hat schließen wollen als … die mit ihr den Garten verlassen hat, sich hinter einem der am Straßenrand geparkten Fahrzeuge vor der Zeugin versteckte, solange die Zeugin das Gartentor zugemacht hat. Die Zeugin … hat deshalb sogleich nach … gerufen, die auf das Rufen jedoch nicht reagiert hat, was die Zeugin dazu veranlasste, zur Straße zu gehen, um … zu suchen. Als das von der Versicherungsnehmerin … der Beklagten gesteuerte Fahrzeug sich näherte, hat die Zeugin  noch durch Zurufen ermahnt, wegen des Autos nicht auf die Straße zu laufen, ist jedoch gleichwohl in die Fahrbahn gerannt.

Sowohl nach der Aussage der Zeugin … als auch des Zeugen … vor dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall Anweisungen grundsätzlich Folge geleistet. .... besuchte im Unfallzeitpunkt bereits den Kindergarten und ihr wurde das Verhalten im Straßenverkehr, etwa dass man bei grüner Ampel über die Straße gehen darf und bei rot stehen blei­ ben muss, gezeigt. Auch seitens des Kindergartens gab es nach den glaubhaften Angaben der Zeugen … und …  keine Rückmeldungen dahingehend, dass … nicht hört. … war nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Unfallzeitpunkt folglich nicht unbeaufsichtigt, sondern hat den kurzen Moment, den sich ihre Mutter umdrehte, um das Gartentor zu schließen, dazu genutzt, sich vor ihrer Mutter zwischen Fahrzeugen verstecken, wobei die Zeugin sogleich nach dem Kind gesucht hat. An einem grob fahrlässigen Verhalten der Zeugin fehlt es deshalb, zumal … vor dem Unfall Anweisungen auch grundsätzlich befolgt hat.

Eine Mithaftung der Zeugin gegenüber ihrem verletzten Kind, die im Wege des gestörten Gesamtschuldnerausgleich zu berücksichtigen wäre, kommt vorliegend folglich nicht in Betracht. Die Beklagte haftet deshalb dem Grunde nach zu 100 % für die von ihrer Versieherungsnehmerin verursachten Unfallschäden.

Infolge des Unfalls wurde … unstreitig im Kreiskrankenhaus Reutingen behandelt, wofür der Klägerin seitens des Krankenhauses   Gesamtkosten in Höhe von insgesamt …  € in Rechnung gestellt und von der Klägerin bezahlt wurden. Diese Ansprüche der bei der Klägerin unstreitig krankenversicherten … sind auf die Klägerin übergegangen.

Die grundsätzlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Krankenhausvergütung sind vorliegend erfüllt. Die Klägerin war verpflichtet, die stationäre Krankenhausbehandlung der bei ihr versicherten zu vergüten.

Nach § 109 Abs. 4 SGB V wird mit einem Versorgungsvertrag nach § 109 Abs. 1 SGB V das Krankenhaus für die Dauer des Vertrages zur Krankenhausbehandlung der Versicherten zugelas­ sen. Das zugelassene Krankenhaus ist im Rahmen seines Versorgungsauftrags zur Kranken­ hausbehandlung (§ 39 SGB V) der Versicherten verpflichtet. Die Krankenkassen sind verpflichtet, unter Beachtung der Vorschriften des SGB V mit dem Krankenhausträger Pflegesatzverhandlun­gen nach Maßgabe des KHG, des KHEntgG und der Bundespflegesatzverordnung zu führen. Bei den Hochschulkliniken gilt die Anerkennung nach den landesrechtlichen Vorschriften als Ab­schluss des Versorgungsvertrages (§ 109 Abs. 1 S. 2 SGB V). Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung eines gesetzlich Krankenversicherten und damit korrespondierend die Zahlungspflicht einer Krankenkasse entsteht - unabhängig von der Kostenzusage - unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und im Sinne des § 39 Abs. 1 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (st. Rechtsprechung BSG, Urteil vom 17. Dezember 2019 - B 1 KR19/19 R - juris). Nach § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Be handlung in einem zugelassenen Krankenhaus (§ 108 SGB V), wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist oder weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nach stationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben, da eine vollstationäre Aufnahme nach ärztli eher Prüfung offensichtlich erforderlich war als nach dem Unfall von ihrer Mutter ins Krankenhaus verbracht wurde. Dabei ist eine letztlich nur zur Beobachtung erfolgte Aufnahme gleichfalls eine erforderliche Krankenhausbehandlung, wenn es nach ärztlichem Ermessen erforderlich erscheint, das Kind auch ohne äußere Verletzungen zu beobachten, denn insbesondere Kinder im Alter von … sind nicht in der Lage zuverlässige Angaben zur Verletzung und ihren Auswirkungen zu machen. Hatte … aber Anspruch auf die ärztlicherseits für erforderlich gehaltenen Behandlungsschritte, so war die Klägerin zur Vergütung derselben verpflichtet.

Die Beklagte hat die der Klägerin seitens des Krankenhauses in Rechnung gestellten … € abzüglich der bereits vorgerichtlich gezahlter ... € zu ersetzen.

Für Krankenhausabrechnungen zählt § 301 SGB V abschließend auf, welche Angaben den Krankenkassen bei einer Krankenhausbehandlung ihrer Versicherten elektronisch zu übermitteln sind. Das Gesetz geht hierbei von dem Regelfall aus, dass die in der Abrechnung und Datenübermitt­ lung enthaltenen Angaben „zutreffend und vollständig" sind. Denn in der Übermittlung der nach den Abrechnungsbestimmungen verschlüsselten Information an die Krankenkasse liegt die implizierte Tatsachenbehauptung des Krankenhauses, es habe beim Versicherten die Befunde erhoben, die die angegebene Diagnose als rechtlich relevanten Abrechnungsbegriff rechtfertigen, und die medizinischen Behandlungen im weiteren Sinne durchgeführt, die die tatbestandlichen Voraussetzungen der codierten Operation oder Behandlung erfüllen. Dabei unterliegt das Überprüfungsrecht auf sachlich-rechnerische Richtigkeit einem eigenen Prüfregime. Die gesetzliche Regelung der Informationsübermittlung an die Krankenkasse gemäß § 301 SGB V korrespondiert mit der Prüfberechtigung der Krankenkassen. Diese sind berechtigt, die sachlich rechnerische Richtigkeit einer Abrechnung von Krankenhausvergütung mit Blick auf eine Leistungsverweigerung oder nicht verjährte Erstattungsforderungen zu überprüfen. Bei Zweifeln an der sachlich-rechnerischen Richtigkeit einer Krankenhausabrechnung ist gemäß § 275 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V eine gutachterliche Stellungnahme des MDK einzuholen. Allein der MDK ist im Falle einer Ab rechnungsprüfung nach § 276 Abs. 2 S. 1 SGB V ermächtigt, die erforderlichen Sozialdaten bei den Krankenhäusern zu fordern und nach § 277 Abs. 1 S. 1 SGB V verpflichtet, den Krankenkassen nur die „notwendigen" Informationen, d.h. nur das Ergebnis der Begutachtung und die erforderlichen Angaben über den Befund mitzuteilen. Die Handlungs- und Überprüfungsmöglichkeiten der Krankenkassen sind somit vor dem Hintergrund, dass es sich bei den Sozialdaten um personenbezogene Daten handelt, erheblich eingeschränkt. Denn nach § 35 Abs. 1 S. 1 SGB I hat jeder Anspruch darauf, dass die ihn betreffenden Sozialdaten von den Leistungsträgern nicht unbefugt verarbeitet werden (Sozialgeheimnis). Die Wahrung des Sozialgeheimnisses umfasst die Verpflichtung - auch innerhalb des Leistungsträgers - sicherzustellen, dass die Sozialdaten nur Befugten zugänglich sind und nur an diese weitergegeben werden, § 35 Abs. 1 S. 2 SGB 1. So weit eine Übermittlung von Sozialdaten nicht zulässig ist, besteht keine Auskunftspflicht, keine Zeugnispflicht und keine Pflicht zur Vorlegung oder Auslieferung von Schriftstücken, nicht automatisierten Dateisystem und automatisiert verarbeiteten Sozialdaten, §§ 35 Abs. 3 SGB 1.

Das verfassungsbedingt strenge sozialrechtliche System der Datenverwendung und die abschließende Rechnungsprüfung durch den MDK wirkt bei der zivilrechtlichen Geltendmachung nach § 116 SGB X übergegangener Ansprüche fort. Auch bei Regress gemäß § 116 SGB X liegt die Feststellung der Schadenshöhe nach § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO im Ermessen des Gerichts (BGH, Urteil vom 23.2.2010 - VI ZR 331/08). Bei der Schätzung der Schadenshöhe gemäß § 287 Abs. 1 ZPO wird in Kauf genommen, dass das Ergebnis unter Umständen mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Die Vorschrift des § 287 Abs. 1 ZPO will verhindern, dass eine Klage allein deshalb abgewiesen wird, weil der Kläger nicht in der  Lage ist, den vollen Beweis für einen ihm entstandenen Schaden zu erbringen, sei es dass die Schadensberechnung Ermessenssache ist oder wegen hypothetischer Schadensberechnung schwer zu beziffern ist oder die Beweiserhebung über die Schadenshöhe einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde, so dass auch bei Regressen nach § 116 SGB X eine solche Schätzung möglich ist (OLG Düsseldorf, Urteil vom 20.6.2012 - 1 - 5 U 25/11). Bei Ausübung des Ermessens sind die dargestellten zwingenden sozialgesetzlichen Vorgaben, die dem Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung und dem Sozialgeheimnis zwingend Rechnung tragen, zu berücksichtigen.

Insoweit ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber in § 284 Abs. 1 Nr. 11 SGB V ausdrücklich gere­gelt hat, dass die von den Leistungserbringern übermittelten Zahlungsdaten zur „Durchführung von Ersatzansprüchen" insbesondere nach § 116 SGB X verwendet werden sollen. Das Gesetz geht zudem vom Regelfall aus, dass die in der Abrechnung und Datenübermittlung enthaltenen Angaben „zutreffend und vollständig sind". Schon deswegen besteht die Vermutung der Richtig­keit und Vollständigkeit der von der Krankenkasse zur Bezifferung der Schadenshöhe vorgetrage­nen Daten. Bei den Sozialversicherungsträgern handelt es sich zudem um öffentlich-rechtliche Hoheitsträger, die somit an Gesetz und Recht gebunden sind. An die Glaubhaftmachung ihrer Forderungen sind daher keine nach dem Zweck des Gesetzes nicht veranlassten formalen Anfor­derungen zu stellen (BGH, Beschluss vom 5.2.2004 - IX ZB 29/03). Wenn deshalb nach den so­ zialrechtlichen System die Daten zwingend nur elektronisch übermittelt werden, dieses auch ge­rade gemäß § 284 Abs. 1 Nr. 11 SGB V zur "Durchführung von Ersatzansprüchen" ermöglicht wurde, dann muss aufgrund des Prinzips der Einheit der Rechtsordnung auch zivilrechtlich bzw. zivilprozessual die Vorlage dieser Dateien bzw. der entsprechenden Ausdrucke als Beweismittel genügen.

Da keine weiteren Daten über die von einer Krankenkasse an die jeweiligen Leistungserbringer erbrachten Zahlungen zur Verfügung stehen, kann zur Bezifferung der Schadenshöhe im Rahmen des § 287 Abs. 1 Satz ein ZPO nicht Weitergehendes zur Darlegung der Schadenshöhe ge­ fordert werden. Demgemäß sind, wenn wie hier weitere Daten zur Darlegung der Schadenshöhe nicht existieren, diese Daten als einziges Beweismittel auf entsprechenden Beweisantrag zu be rücksichtigen, insbesondere wenn es sich um öffentliche Urkunden gemäß §§ 416a, 415 ZPO handelt.

Dies ist vorliegend der Fall. Bei den Grouper-Ausdrucken handelt es sich nicht um von der Klägerin „selbst erstellte" Daten, sondern um solche Daten, die Dritte - namentlich die Leistungserbrin ger - innerhalb des gesetzlich zwingenden Systems der§§ 284, 285, 300 ff. SGB V übermitteln und die nur von der EDV der Sozialversicherungsträger infolge der Datenübertragung empfangen wurden. Das BVerfG hat im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG mehrfach erkannt, dass bei Beweisnot im Übrigen auch ein “selbst erstelltes" Beweismittel verwertet werden muss, nämlich die Anhörung oder Vernehmung der Prozessparteien. Auch kann die Überzeugung des Gerichts zudem allein auf Parteierklärungen gestützt werden (BVerfG, Beschluss vom 1. August 2017 - 2 BvR 3068/14).

Wenn dies bereits für Private gilt, dann muss es erst recht für an Gesetz und Recht gebundene öffentlich-rechtliche Körperschaften gelten, die über keinerlei weitere Abrechnungsdaten als dieje nigen, die ihnen aufgrund des gesetzlichen Systems nach den §§ 300 ff. SGB V übertragen wurden, verfügen und diese noch nicht einmal selbst prüfen dürfen. Umfasst von der öffentlichen Wirkung gemäß den §§ 416a, 415 ZPO ist jedoch nur die Schadenshöhe. Die haftungsausfüllen­de Kausalität zwischen dem vorfallbedingten Gesundheitsschaden und den der Abrechnung zu Grunde liegenden Heilbehandlungsmaßnahmen oder sonstigen Sozialleistungen kann nicht durch EDV-Ausdrucke nachgewiesen werden, sondern ist regelmäßig eine medizinische Fachfrage. Es genügt deshalb für die prozessuale Beweisführung, dass die Krankenkasse eine tabellarische Übersicht der Schadensposten unter Beifügung entsprechender Ausdrucke der übermittelten Rechnungsdaten vorlegt (OLG Saarbrücken, Urteil vom 12.3.2015 – 4 U 32/14). Ein pauschales Bestreiten hingegen ist unsubstantiiert und damit prozessual unbeachtlich (OLG Nürnberg, Urteil vom 13. Mai 2015-4 U 1839/14).

Unter Berücksichtigung vorliegender Ausführungen sind die seitens der Klägerin vorgelegten Grouper-Ausdrucke, aus denen sich eine von ihr für den Schadensfall aufgewandte Gesamtsum­me in Höhe von … € ergibt, als Nachweis ausreichend. Unter Berücksichtigung der vorgerichtlichen Zahlung von … € war die Beklagte folglich zur Zahlung restlicher … € zu verurteilen.

Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286, 288 BGB.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 ZPO.

…, Richterin am Amtsgericht

Verkündet am 21.04.2021


Kostenlast des Sozialversicherungsträgers bei Nichtvorlage von OP-Berichten? AG Traunstein, Anerkenntnisurteil vom 23.12.2020 - 319 C 852/20 - , sowie nacholgend LG Traunstein vom 04.05.2021 - 3 T 312/21 - gegen den BGH?

HINWEIS: 

Die nachfolgenden Entscheidungen des AG und LG Traunstein werden derzeit von der HUK-Coburg als Grund angeführt, um zu untermauern, dass aussergerichtlich OP-Berichte vorzulegen seien.

Diese Urteile entsprechen NICHT der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 103 Abs. 1 GG. Die Vorlage eines OP-Berichts ist nicht Voraussetzung für die Schlüssigkeit einer Klage. Denn für einen schlüssigen Klagevortrag genügt bereits, dass Tatsachen vorgetragen werden, die das behauptete Recht als entstanden erscheinen lassen (zuletzt BGH v. 18.05.2021 – VI ZR 401/19; BGH, Beschl. v. 26.03.2019 – VI ZR 163/17; BGH v. 27.09.2016 – VI ZR 565/15). Der Ausdruck nach § 301 SGB V enthält bereits alle für die Schlüssigkeit der Klage erforderlichen Daten (Verletzung, Prozeduren, Betrag). Vielen Fachinstanzen ist diese Rechtsprechung nicht bekannt, weshalb der BGH leider auch regelmäßig hierzu entscheiden muss.

 

Die Entscheidungen als PDF finden Sie hier: Traunstein_geschwärzt

Az.:      319 C 852/20

Amtsgericht Traunstein

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Rechtsstreit ...

wegen Schadensersatz

erlässt das Amtsgericht Traunstein durch den Richter am Amtsgericht … folgendes

Anerkenntnisurteil

  1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 897,94 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 22.08.2020 zu bezahlen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
  3. Das Urteil ist vorläufig

 Entscheidungsgründe

Unter dem 28.10.2020 wurde ein schriftliches Vorverfahren angeordnet und am 30.10.2020  wurde die Klage zugestellt.

Innerhalb der verlängerten Klageerwiderungsfrist bis 28.12.2020 wurde die Klageforderung  unter Verwahrung der Kostenlast mit Schriftsatz vom 09.12.2020 anerkannt.

Es handelt sich um ein sofortiges Anerkenntnis im Sinne des § 93 ZPO. Der von der Beklagten beauftragten … lag erst nach Klageerhebung der schon zuletzt mit Schreiben der Beklagten vom 23.01.2020 (Anlage K 13, Bl. 25 d.A.) anforderte OP-Bericht vor. Zur Begründung stationärer Behandlungskosten und zum Nachweis deren Schlüssigkeit ist die Vorlage des Operationsberichts unerlässlich.

Insofern hatte die Beklagte keinen Anlass zur Klage gegeben.

gez. .... Richter am Amtsgericht

_____________________________________________________________________________________________

Landgericht Traunstein

Az. 3 T 312/21

 

In Sachen … wegen Kostenbeschwerde

erlässt das Landgericht Traunstein - 3. Zivilkammer - durch die Richterin … als Einzelrichterin am 04.05.2021 folgenden

Beschluss

  1. Die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen die Kostenentscheidung im Anerkenntnisurteil des Amtsgerichts Traunstein vom 12.2020, Az. 319 C 852/20, wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des
  3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht

Gründe

Im Anerkenntnisurteil vom 23.12.2020 (BI. 43 - 46 d. A.) nahm das Amtsgericht ein sofortiges Anerkenntnis i. S. d. § 93 ZPO an und verurteilte die Klägerin daher zur Kostentragung. Zur Begrün­ dung führte es aus, dass der von der Beklagten beauftragten Firma zur Abrechnungsprüfung der bereits mit vorgerichtlichem Schreiben vom 23.01.2020 (Anlage K13) seitens der Beklagten von der Klägerin angeforderte OP-Bericht erst nach Klagezustellung vorlag. Dessen Vorlage sei zur Begründung der von der Klägerin begehrten stationären Behandlungskosten und zum Nachweis deren Schlüssigkeit jedoch unerlässlich. Mit Schreiben vom 30.12.2020, eingegangen bei Gericht am selben Tag (BI. 47 - 65 d. A.), legte die Klägerin sofortige Beschwerde gegen diese Kosten­ entscheidung ein. Die Klägerin ist der Rechtsauffassung, die Beklagte habe Anlass zur Klage gegeben, da sie vorprozessual unberechtigt die Regulierung von der Vorlage des OP-Berichtes abhängig gemacht habe. Mit Beschluss vom 08.02.2021 (BI. 74 d. A.) hat das Amtsgericht der so fortigen Beschwerde nicht abgeholfen.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet.

Die sofortige Beschwerde ist statthaft gem. § 99 Abs. 2 ZPO. Die Beschwerdefrist nach § 567 Abs. 1 ZPO wurde eingehalten.

Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Das Amtsgericht hat § 93 ZPO in nicht zu beanstandender Weise angewandt. Die Annahme eines sofortigen Anerkenntnisses begegnet keinen Bedenken. Die Beklagte hat keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben.

Ein Anlass zur Klagerhebung liegt vor, wenn der Beklagte sich vor Prozessbeginn so verhält, dass der Kläger bei vernünftiger Würdigung davon ausgehen muss, er werde anders als durch eine Klage nicht zu seinem Recht kommen. An einer Klageveranlassung fehlt es grundsätzlich immer dann, wenn der Beklagte weder in Verzug war, noch den Anspruch bestritten oder die Leistung verweigert hat. Dabei ist eine Wertungsentscheidung zu treffen, die alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt (vgl. MüKoZPO/Schulz, 5. Aufl. 2016, ZPO § 93 Rn. 7).

Die Beklagte hat die Leistung hinsichtlich der stationären Behandlungskosten nicht per se verweigert, sondern lediglich von der Vorlage des OP-Berichtes abhängig gemacht.

Hierzu war sie auch berechtigt. Denn wie von der Beklagten zutreffend dargestellt, sind die Anforderungen an Anspruchsgrund- und Schadensnachweis für den Rechte aus § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X herleitenden Sozialversicherungsträger nicht anders, insbesondere besser als für seinen Versicherungsnehmer, den unmittelbar Geschädigten. Der Aufwand des Sozialversicherungsträgers wird durch ein Haftpflichtgeschehen ausgelöst; er tritt nur infolge der Legalzession in die  Rechte des unmittelbar verletzten Versicherungsnehmers ein. Es geht also dogmatisch nicht um Aufwendungsersatz. Der Sozialversicherungsträger macht vielmehr einen auf ihn übergegangenen Schadensersatzanspruch geltend. Hieraus folgt zwingend, dass ihn die gleiche Darlegungs­ und Beweislast trifft wie den Geschädigten. Der Sozialversicherungsträger muss also den Strengbeweis (§ 286 ZPO) für die Verletzungen und die Unfallkausalität von Behandlungen und Arbeitsunfähigkeit führen (OLG Jena Urt. v. 15.5.2012 - 4 U 661/11, BeckRS 2012, 12085,  beck-online, m. w. Nachw.). Demnach obliegt es der Klägerin, die verfügbaren und seitens der Beklagten ja auch ausdrücklich angeforderten Behandlungsunterlagen wie eben den OP-Bericht vorzulegen, um der Beklagten eine Prüfung der geltend gemachten Forderungshöhe und deren Unfallbedingtheit zu ermöglichen. Diese Vorlage ist der Klägerin auch zumutbar. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den klageseits zitierten Entscheidungen. Diese betreffen vielmehr einen anderen Fall, nämlich die Frage der Erforderlichkeit der Behandlungskosten und die Tragung des diesbezüglichen Einschätzungsrisikos.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Rechtsbeschwerde war gemäß § 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 ZPO nicht zuzulassen. da die vorliegende Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nicht erforderlich ist. Es ging um eine reine Einzelfallentscheidung.

gez. Richterin


Zur Verjährung regelmäßig wiederkehrender Leistungen in der außergerichtlichen Schadensregulierung - Prelinger, jurisPR-VerkR 16/2021, Anm. 2 (Anmerkung zu OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.04.2021 - 22 U 15/21)

Regelmäßig wiederkehrende Leistungen verjähren grundsätzlich erst mit dem Stammrecht, soweit sie nicht bereits gemäß § 197 Abs. 2 BGB tituliert sind.

Sie müssen angemeldet sein, um den Inhalt sehen zu können.

Autor

Wolfdietrich Prelinger, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Verkehrsrecht, Fachanwalt für Versicherungsrecht


Erscheinungsdatum

04.08.2021


Anmerkung zu

OLG Frankfurt, 22. Zivil­senat, Beschluss vom 14.04.2021 – 22 U 15/21



Quelle


Fundstelle

jurisPR-VerkR 16/2021, Anm. 2


Herausgeber

Jörg Elsner, LL.M., RA und FA für Verkehrs­recht und Versi­che­rungs­recht

Dr. Klaus Schneider, RA und FA für Verkehrs­recht und Versi­che­rungs­recht


Zitiervorschlag

Prelinger, jurisPR-VerkR 16/2021, Anm. 2


Zur Verjährung regelmäßig wiederkehrender Leistungen in der außergerichtlichen Schadensregulierung - OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.04.2021 - 22 U 15/21 (veröffentlicht bei juris)

Tenor

In dem Rechtsstreit … wird die Beklagte darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtigt, die Berufung als offensichtlich unbegründet gemäß § 522 ZPO zurückzuweisen.

Die Beklagte hat Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 4 Wochen.

Gründe

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Zahlung rückständiger Pflegeversicherungsbeiträge für die Jahre 2009 bis 2014 in Anspruch, für die die Beklagte dem Grunde nach unstrittig gemäß §§ 7 StVG, 115 VVG einstandspflichtig ist. Die Beklagte beruft sich auf Verjährung.

Außerdem hat die Klägerin von der Beklagten die Feststellung der Ersatzpflicht dem Grunde nach verfangt. Insoweit hat die -Beklagte modifiziert ein Anerkenntnis abgegeben.

Durch das Teilanerkenntnis- und Schlussurteil vom 26.11.2020 hat das Landgericht insgesamt, hinsichtlich der Feststellung über das Anerkenntnis hinaus, der Klage stattgegeben. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass die Einrede der Verjährung nicht durchgreife, weil die Beklagte durch die zwischenzeitlich vorbehaltslos erfolgten Zahlungen auf andere Pflegeleistungen der Klägerin die Schadensersatzverpflichtung anerkannt habe, was regelmäßig zu einem Neubeginn der Verjährungsfrist führe.

Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Beklagten, mit der diese sich gegen die Verurteilung zur Zahlung insgesamt und im Übrigen auch gegen die weitergehende Formulierung des Feststellungstenors wendet.

II.

Die Berufung ist zulässig, sie ist jedoch offensichtlich nicht begründet.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und erfordert auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats aufgrund mündlicher Verhandlung.

Das Urteil des Landgerichts ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Das Landgericht hat zutreffend festgestellt, dass die Verjährung durch die regelmäßigen und vorbehaltslosen Einzelzahlungen der Beklagten für den gesamten Schaden immer wieder neu begonnen hat und deshalb auch die Pflegeversicherungsleistungen aus den Jahren 2009 bis 2014, obgleich erst im Jahr 2018 geltend gemacht, noch verlangt werden können.

§ 212 Abs. 1 Ziff. 1 BGB entspricht wörtlich dem alten § 208 BGB a.F. Statt des Begriffs „Unterbrechung“ hat der Gesetzgeber aber die treffendere Formulierung „Neubeginn“ gewählt. Danach beginnt die Verjährungsfrist neu zu laufen, wenn der Schuldner den Anspruch „durch Abschlagszahlung, Zinszahlung, Sicherheitsleistung oder in anderer Weise anerkannt“ hat.

Es bedarf bei der Frage, ob ein Anerkenntnis vorliegt, stets einer umfassenden Würdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls, das heißt grundsätzlich einer Prüfung der einzelnen - möglichen – „Anerkennungshandlungen“ des Schuldners.

Ein solches tatsächliches Anerkenntnis ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Schädiger oder der auch insoweit für ihn handelnde Haftpflichtversicherer dem Geschädigte bzw. dessen Rechtsnachfolger auf dessen Verlangen Schadensersatzleistungen erbringt (BGH Urteile vom 17. März 1970 - VI ZR 148/68 -VersR 1970, 549, 550 und vom 29. Oktober 1985 - VI ZR 56/84 - VersR 1986, 96,97). Da der gesamte aus einer unerlaubten Handlung entstehende Schaden eine Einheit darstellt (st. Rspr. des BGH; vgl. Urteile vom 30. Juni 1970 - VI ZR 242/68 – VersR 1970, 840, 841 und vom 20. April 1982 -VI ZR 197/80 -VersR 1982, 703), liegt ein den Anspruch auf Ersatz dieses Schadens insgesamt umfassendes Anerkenntnis regelmäßig auch dann vor, wenn sich der Schaden aus mehreren Schadensarten (z.B. Heilungskosten, Erwerbsschaden, Mehrbedarf) zusammensetzt, der Geschädigte bzw. sein Rechtsnachfolger nur einzelne dieser Schadensteile geltend macht und der Schädiger allein hierauf zahlt. Erfüllt der Schädiger Einzelansprüche des Geschädigten, so liegt darin eine Leistung auf den Gesamtanspruch, durch die dessen Verjährung unterbrochen (§ 208 BGB a.F.) bzw. neu begonnen wird (§ 212 BGB n.F.), denn über den Einzelansprüchen steht der Gesamtanspruch, aus dem diese fließen (vgl. BGH Urteile vom 12. Juli 1960 - VI ZR 92/59 - VersR 1960, 949 und Urteil vom 3. Oktober 1967 – VI ZR 7/66 - VersR 1967, 1182). Hierdurch erweckt nämlich der Schädiger grundsätzlich das Vertrauen, auch auf die anderen Schadensgruppen, soweit sie geltend gemacht werden, Ersatz leisten zu wollen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn, wie im Streitfall, ausschließlich Ersatzansprüche für einen Personenschaden in Betracht kommen (BGH, Urteil vom 02. Dezember 2008 - VI ZR 312/07 -, Rn. 22, juris).

Genügt mithin für den Neubeginn der Verjährung jedes - auch ein rein tatsächliches -Verhalten des Schuldners gegenüber dem Gläubiger, aus dem sich das Bewusstsein vom Bestehen des Anspruchs - wenigstens dem Grunde nach - unzweideutig ergibt und dass deswegen das Vertrauen des Gläubigers begründet, dass sich der Schuldner nicht nach Ablauf der Verjährungsfrist alsbald auf Verjährung berufen wird (vgl. BGH Urteile vom 2. Dezember 2008 - VI ZR 312/07, VersR 2009, 230 Rn. 22 und vom 28. Februar 1969 – VI ZR 250/67, VersR 1969, 567 mwN; BGH, Urteil vom 20. Juni 2002 - IX ZR 444/00, VersR 2003, 251 Rn. 13; vom 21. November 1996 – IX ZR 159/95, NJW 1997, 516, 517 mwN; vom 27. Januar 1999 - XII ZR 113/97, NJW 1999, 1101, 1103),•müssen die 13 Zahlungen der Beklagten in den Jahren 2008 bis 2017 ausreichen, um einen solchen Neubeginn zu begründen. Denn nach dem Wortlaut des § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB beginnt die Verjährung insbesondere dann erneut, wenn der Schuldner dem Gläubiger gegenüber den Anspruch durch Abschlagszahlung anerkennt.

Ob eine Erklärung des Schuldners die Voraussetzungen eines verjährungsunterbrechenden Anerkenntnisses im Sinne des § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB n.F. erfüllt, ist als Frage der tatrichterlichen Auslegung im Einzelfall revisionsrechtlich nur beschränkt auf die Verletzung von Auslegungsregeln, Denkgesetzen, Erfahrungssätzen und Verfahrensvorschriften überprüfbar (vgl. BGHZ 131, 136, 138; Urteil vom 2. Dezember 2008 - VI ZR 312/07 -; BGH, Urteile vom 20. Juni 2002 - IX ZR 444/00, vom 14. Juni. 2000 - VIII ZR 73/99, NJW 2000, 3130, 3131 f.).

Auch berufungsrechtlich sind gemäß § 529 ZPO die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts, wozu auch die Auslegung von Willenserklärungen aufgrund der Gesamtumstände gehört, bindend, soweit keine Anhaltspunkte für entsprechende Zweifel bestehen.

Ein Anerkenntnis kann mit verjährungsunterbrechender Wirkung (§ 208 BGB a.F., §. 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB n.F.) nur innerhalb einer noch laufenden Verjährungsfrist abgegeben werden (vgl. RGZ 78, 130, 131; BGH, Beschluss. Vom 7. Mai 2014 - XII ZB 141/13, Rn. 15; BGH, Urteil vom 21. November 1996 - IX ZR 159/95, NJW 1997, 516, 517; vom 9. Oktober 1986 - I ZR 158/84, WRP 1987, 169; Staudinger/Peters/Jacoby, BGB, Bearb. 2014, § 212 Rn. 32; Erman/Schmidt/Schmidt-​Räntsch, BGB, 14. Aufl., § 212 Rn. 9 mwN.; BGH, Urteil vom 27. Januar 2015 - VI ZR 87/14 -, Rn. 7- 11, juris). Dies ist vorliegend allerdings angesichts der Vielzahl der Zahlungen über viele Jahre unproblematisch.

Ein Teilanerkenntnis unterbricht zwar nur die Verjährung der Forderungsteile, auf die es sich bezieht. Ob ein solches Teilanerkenntnis vorliegt, ist allerdings Auslegungsfrage. Die Verjährungsfrist für die gesamte Forderung, also für das Stammrecht und die wiederkehrenden Leistungen, beginnt neu, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass die Ersatzpflicht dem Grunde nach voll anerkannt wird. Bei der vorbehaltlosen Erfüllung von Einzelansprüchen ist dies, wie oben dargelegt, regelmäßig der Fall (so auch Küppersbusch/Höher; Ersatzansprüche Personenschaden, XV. Verjährung Rn. 799-​801, Beck-​online).

Die Berufung ist auch unbegründet, soweit sie sich auf die Formulierung des Feststellungstenors bezieht. Es ist zwar richtig, dass die Beklagte nur innerhalb ihrer vertraglichen Deckung und nach § 115 VVG haftet und dies der Klägerin gegenüber nur für die auf diese nach § 116 SGB X übergegangenen gegenwärtigen oder zukünftigen Ansprüche gilt.

Dies ergibt sich aber unzweifelhaft aus den Entscheidungsgründen des Urteils, die zur Auslegung des Tenors heranzuziehen sind. Es entspricht vielmehr der überall geübten gerichtlichen Praxis, die Begründetheit der Feststellungsklage allen haftenden Beklagten (Halter, Fahrer, Versicherung) einheitlich zu tenorieren und die von der Beklagten aufgeführten unzweifelhaften Begrenzungen nicht ausdrücklich aufzuführen.

Insofern fehlt es der Berufung bereits an der materiellen Beschwer.

Auch die Kostenentscheidung des Landgerichts ist zutreffend, da ein Fall des § 93 ZPO nicht vorliegt. Die Klägerin hatte erstinstanzlich vorgetragen, dass sie die Beklagte vergeblich zur Abgabe eines titelersetzenden Anerkenntnisses aufgefordert hatte. Die Beklagte hat zunächst bestritten, dass eine entsprechende Aufforderung erfolgt sei. Die Kläger hat anschließend das Schreiben vom 21.12.2018 vorgelegt, zu dem die Beklagte trotz mehrfacher Gelegenheit nicht mehr Stellung genommen hat.

Das Landgericht durfte deshalb davon ausgehen, dass der Zugang dieses Schreibens unstreitig geworden war. Auch inhaltlich reichte das Schreiben aus, um die Beklagte zum entsprechenden Tätigwerden zu veranlassen.


Zur Schadensdarlegung durch EDV-Ausdrucke der Krankenkasse - AG Coburg, Anerkenntnisurteil vom 15.03.2021 - 17 C 3369/20

Das Urteil finden Sie als PDF hier: AG_Coburg_17_C_3369-20_JURE210004441

 

Tenor

  1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.495,90 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 06.10.2020 zu zahlen.
  2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
  3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Es handelt sich nicht um ein sofortiges Anerkenntnis.

Gem. § 93 ZPO fallen dem Kläger die Prozesskosten zur Last, wenn der Beklagte nicht durch sein Verhalten zur Erhebung der Klage Veranlassung gegeben und er den Anspruch sofort anerkennt.

Der Beklagte gibt Anlass zur Klagerhebung, wenn er sich vor Prozessbeginn so verhält, dass der Kläger bei vernünftiger Würdigung davon ausgehen muss, er werde anders als durch eine Klage nicht zu seinem Recht kommen (vgl. Schulz in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 93, Rn. 7).

Hält der Beklagte vorprozessual die gegnerische Forderung für teilweise oder insgesamt nicht schlüssig bzw. nicht nachvollziehbar, darf er nicht pauschal die Leistung verweigern, sondern hat deutlich zu machen, welche Angaben oder Unterlagen er benötigt; werden ihm diese vorenthalten, fehlt es an einem Klageanlass. Ein Irrtum über das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen geht zu Lasten des Beklagten. Das Aufforderungsschreiben muss inhaltlich nicht alle für eine schlüssige Klagebegründung notwendigen Informationen und Belege enthalten. Die Klageveranlassung setzt ferner kein Verschulden des Beklagten voraus (vgl. Schulz in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 93, Rn. 8).

Ist die Klageveranlassung streitig, trifft grundsätzlich den Beklagten die Beweislast dafür, dass er keine Veranlassung zur Klage gegeben hat (vgl. Schulz in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 93, Rn. 9).

Vorliegend existierten keine weiteren von der Beklagten geforderten Belege, zudem konnte die Beklagte die Vorlage der weiteren Belege nicht verlangen. Die tatsächliche medizinische Notwendigkeit einer aufgrund der im SGB V geregelten Sozialleistungen erfolgten Leistung ist im Rahmen eines Regressanspruchs eines nach § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X übergegangen Anspruchs nicht mehr zu überprüfen.

Die Beklagte hat daher zur Klageerhebung Anlass gegeben und konnte den Anspruch nicht mehr sofort anerkennen.

juris-Link: https://www.juris.de/perma?d=JURE210004441


Zur Anwendbarkeit des § 116 Abs. 6 SGB X (a.F.) bei einem spielsüchtigen und sich nicht um die Kinder kümmernden Vater - OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21.01.2021 - 4 U 97/20 (veröffentlicht bei juris und beck-online)

LG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 8. Mai 2020 – 6 O 37/18 

nachgehend: OLG Karlsruhe, 25. September 2020, 4 U 97/20 (Hinweisbeschluss)

nachgehend: OLG Karlsruhe, 21. Januar 2021, 4 U 97/20 (Zurückweisungsbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO)

 

Tenor

  1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 1) 139.400,31 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 29.09.2017 zu zahlen.
  2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte darüber hinaus verpflichtet ist, der Klägerin zu 1) über das Teilanerkenntnisurteil vom 30.08.2018 hinaus weitere 2/3 sämtlicher weiterer Schäden - auch über die Haftungshöchstgrenze des § 12 StVG hinaus - zu ersetzen, die der Klägerin zu 1) aus der Verletzung des ..., vom 13.09.2015 aufgrund des Unfalls auf der BAB 5 von Basel in Richtung Karlsruhe in der Gemarkung Neuenburg entstanden sind oder noch entstehen werden.
  3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 2) 8.398,77 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 29.09.2017 zu zahlen.
  4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte darüber hinaus verpflichtet ist, der Klägerin zu 2) über das Teilanerkenntnisurteil vom 30.08.2018 hinaus weitere 2/3 sämtlicher weiterer Schäden - auch über die Haftungshöchstgrenze des § 12 StVG hinaus - zu ersetzen, die der Klägerin zu 2) aus der Verletzung des ..., vom 13.09.2015 aufgrund des Unfalls auf der BAB 5 von Basel in Richtung Karlsruhe in der Gemarkung ... entstanden sind oder noch entstehen werden.
  5. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerinnen als Gesamtgläubiger vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 2.784,50 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.03.2018 zu zahlen.
  6. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
  7. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
  8. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

 

Beschluss

Der Streitwert wird auf 217.993,21 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um auf die Klägerinnen nach § 116 SGB X übergegangene Ansprüche des bei ihnen versicherten ... aufgrund eines Verkehrsunfalls am 13.09.2015 auf der BAB 5 in Fahrtrichtung Basel-​Karlsruhe, Gemarkung ....

Die Klägerinnen sind die Kranken- und Pflegeversicherung des ..., geboren am .... Dieser saß am 13.09.2015 gemeinsam mit seinem Bruder in dem von seinem Vater geführten Pkw der Marke Alfa Romeo mit dem amtlichen Kennzeichen ... auf der BAB 5 in Fahrtrichtung Basel-​Karlsruhe, Gemarkung .... Der Vater des Geschädigten fuhr am frühen Morgen des 13.09.2015 auf das vor ihm fahrende Wohnmobil mit dem amtlichen Kennzeichen ... auf. Der Pkw des Vaters des Geschädigten kam daraufhin auf der rechten Fahrspur schräg zum Stillstand, das Wohnmobil blieb nach einer längeren Schleuderstrecke rechts auf dem Standstreifen umgekippt liegen. Nach dem Unfall näherte sich ein weiterer Pkw der Marke Audi, in dem sich Herr ... und Herr ... befanden. Diese konnten die Unfallstelle ohne Zusammenstoß passieren und hielten ca. 50 Meter nach dem umgekippten Wohnmobil auf der Standspur an. Der sich auf der rechten Fahrspur anschließend nähernde Pkw VW Tiguan des Herrn ... mit dem amtlichen Kennzeichen ..., der lediglich mit Abblendlicht fuhr, kollidierte mit dem Pkw, in dem sich noch immer der Geschädigte befand. Hierdurch wurde der Pkw des Vaters des Geschädigten 42 m weit auf den linken Fahrstreifen geschoben. Der Geschädigte wurde dabei schwer verletzt.

Aufgrund des Unfalls hat die Klägerin zu 1) Aufwendungen in Höhe von 209.100,47 € erbracht, die durch die Beklagte bereits in Höhe von 63.985,13 € beglichen wurden. Die Klägerin zu 2) erbrachte Aufwendungen in Höhe von 12.759,00 €, wovon die Beklagte bereits 4.166,10 € auf der Grundlage einer Schadenshöhe von 12.498,31 € zahlte.

Die Klägerinnen tragen vor, der Herr ..., habe mittels einer im Smartphone integrierten Taschenlampenfunktion versucht, den herrannahenden Verkehr vor der Unfallstelle zu warnen, insbesondere auch den Herrn ..., Herr ... er fuhr nicht dem Sichtfahrgebot entsprechend. Er hätte bei gehöriger Aufmerksamkeit den Pkw des Vaters des Geschädigten durch ein Ausweichen nach links umfahren können. Die Kollisionsgeschwindigkeit lag bei 125 bis 130 km/h. Herr ... hätte entsprechend der bei Abblendlicht bestehenden Sichtweite von 50 bis 80 m eine Geschwindigkeit von 70-​93 km/h einhalten müssen.

Zwischen dem Geschädigten und seinem Vater habe zum Zeitpunkt des Unfalls keine häusliche Gemeinschaft bestanden, aufgrund derer ein Mitverschulden nach § 116 Abs. 6 SGB X zu berücksichtigen wäre. Der Vater des Geschädigten habe sich um den Geschädigten nur vereinzelt gekümmert.

Die Klägerinnen beantragen zuletzt,

  1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin zu 1) 139.400,31 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 29.09.2017 zu zahlen.
  2. festzustellen, dass die Beklagte darüber hinaus verpflichtet ist, der Klägerin zu 1) über das Teilanerkenntnisurteil vom 30.08.2018 hinaus weitere 2/3 sämtlicher weiterer Schäden - auch über die Haftungshöchstgrenze des § 12 StVG hinaus - zu ersetzen, die der Klägerin zu 1) aus der Verletzung des ... 1, ... vom 13.09.2015 aufgrund des Unfalls auf der BAB 5 von Basel in Richtung Karlsruhe in der Gemarkung ... entstanden sind oder noch entstehen werden.
  3. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin zu 2) 8.592,90 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 29.09.2017 zu zahlen.
  4. festzustellen, dass die Beklagte darüber hinaus verpflichtet ist, der Klägerin zu 2) über das Teilanerkenntnisurteil vom 30.08.2018 hinaus weitere 2/3 sämtlicher weiterer Schäden - auch über die Haftungshöchstgrenze des § 12 StVG hinaus - zu ersetzen, die der Klägerin zu 2) aus der Verletzung des ..., vom 13.09.2015 aufgrund des Unfalls auf der BAB 5 von Basel in Richtung Karlsruhe in der Gemarkung Neuenburg entstanden sind oder noch entstehen werden.
  5. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerinnen als Gesamtgläubiger vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 2.784,50 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, der Vater des Geschädigten habe den Auffahrunfall auf das Wohnmobil durch eigene Unaufmerksamkeit verursacht. Das Fahrzeug des Vaters des Geschädigten sei daraufhin völlig unbeleuchtet auf der Autobahn gestanden. Die Kollisionsgeschwindigkeit lag bei 117 km/h.

Aufgrund der zum Unfallzeitpunkt herrschenden Witterungs- und Sichtbedingungen habe Herr ... eine durch Herrn ... geschwenkte Lampe nicht wahrnehmen können beziehungsweise habe er eine solche Lampe nicht als Warnsignal eines in unmittelbarer Nähe stattgefundenen Unfalls deuten müssen. Zudem habe er eine den Unfall verhütende oder seine Folgen verringernde Abwehrreaktion nicht mehr vornehmen können.

Die Beklagte trägt vor, dass ein Anspruch der Klägerin zu 2) allenfalls in Höhe von 12.498,31 € bestehen könne, da sich der Geschädigte in der Zeit vom 12.09.2016 bis 17.09.2016 und vom 13.06.2017 bis 20.07.2017 in stationärer Behandlung befand. Während dieser Zeit seien keine zusätzlichen Pflegeleistungen erforderlich gewesen.

Der Vater des Geschädigten sei seiner Verantwortung für den Geschädigten in dem ihm rechtlich möglichen Maße nachgekommen. Er habe mit dem Geschädigten regelmäßigen und längeren Umgang gehabt.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin .... Wegen des Inhalts der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.03.2020 (Blatt 253 d.A.) Bezug genommen. Die Akten des Amtsgerichts Freiburg mit dem Aktenzeichen 2 Cs 520 Js 29071/15 waren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf die gewechselten Schriftsätze, jeweils nebst Anlagen, sowie das Vorbringen in der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

I.

Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.

1. Den Klägerinnen steht ein Anspruch aus übergegangenem Recht gegen den bei der Beklagten versicherten Herrn ... sowohl gemäß § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. § 116 Abs. 1 SGB X als auch gemäß § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. 116 SGB X zu, der nach § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG direkt gegen die Beklagte geltend gemacht werden kann.

2. a) Es besteht ein Anspruch der Klägerinnen aus § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 116 Abs. 1 SGB X.

(1) Es liegt eine Rechtsgutsverletzung zu Lasten des Geschädigten vor. Dieser wurde infolge des Auffahrens durch den Herrn ... schwer verletzt. Die Rechtsgutsverletzung geschah auch bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs.

(2) Ein eigenes Mitverschulden des Geschädigten nach § 9 StVG ist nicht ersichtlich.

(3) Obwohl der hier gegenständliche Unfall vom 13.09.2015 vorliegend sowohl durch den Herrn ... als auch durch den Vater des Geschädigten verursacht wurde, besteht der Anspruch in voller Höhe gegen die Beklagte als Versicherung des Herrn ....

Bei mehreren nebeneinander verantwortlichen Schädigern besteht zum Geschädigten grundsätzlich die volle Haftung, ohne dass einer der Schädiger auf den Tatbeitrag des anderen verweisen könnte (BGH, Urteil vom 05.10.2010 - VI ZR 286/09 - juris Rn. 9).

Der Unfall wurde sowohl durch den Herrn ... als auch durch den Vater des Geschädigten verursacht. Gegen den Vater des Geschädigten spricht ein Anscheinsbeweis, da er auf das vor ihm fahrende Wohnmobil des Herrn ... aufgefahren ist (vgl. BGH, Urteil vom 13.12.2016 - VI ZR 32/16 - juris Rn. 10). Es liegt ein typisches Unfallgeschehen vor, das nach der Lebenserfahrung auf ein schuldhaftes Verhalten des Vaters des Geschädigten schließen lässt. Weitere Umstände des ersten Unfalls, wie etwa ein vorhergehender Spurwechsel oder eine durch den Herrn ... getätigte Vollbremsung sind weder bekannt noch durch die Parteien im Rahmen des Verfahrens vorgetragen. Es liegt jedoch auch - unabhängig von dessen Quote - ein schuldhaftes Handeln des Herrn ... vor. Denn es handelte sich nicht um einen Unfall, der für ihn völlig unvermeidbar war. Unabhängig von dem streitigen Umstand, ob der Herr ... die Lampe schwenkte beziehungsweise ob der Herr ... dies sehen oder als Warnung verstehen musste, fuhr der Herr ... nach den Feststellungen des Sachverständigen ... im Gutachten vom 23.02.2016 für die bestehenden Umstände zu schnell. Der Herr ... sagte in der Beschuldigtenvernehmung bei dem Polizeirevier Freiburg-​Nord am 13.09.2015 selbst aus, dass er lediglich mit Abblendlicht gefahren ist. Ob der Herr ... die durch die Klägerinnen behaupteten und durch den Sachverständigen festgestellten 125-​130 km/h fuhr oder die durch die Beklagte aufgrund des Ergebnisses des Drehzahlfühlers behaupteten 117 km/h ist insoweit nicht entscheidend. Gemäß § 3 Abs. 1 S. 4 StVO darf nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann. Die Geschwindigkeit, bei der innerhalb der Sichtweite noch angehalten werden kann, bildet die absolute Grenze der Höchstgeschwindigkeit, da andernfalls eine Schädigung dem Zufall überlassen sein würde, was dem Schutzzweck der StVO widerspricht (Bender, in Münchener Kommentar zum StVR, 1. Auflage 2016, § 3 StVO Rn. 6). Der Sachverständige ... hat festgestellt, dass der Herr ... bei dem hier vorliegenden Fahren mit Abblendlicht eine maximale Geschwindigkeit von 70-​93 km/h hätte einhalten müssen. Diese wurde unstreitig überschritten. Dass der Unfall grundsätzlich vermeidbar war, zeigt sich auch daran, dass der Herr ... zuvor die Unfallstelle ohne Kollision passieren konnte.

(4) Der Anspruch gegen die Beklagte beschränkt sich auch nicht wegen eines gestörten Gesamtschuldverhältnisses auf die Verschuldensquote des Herrn ..., da ein solches gestörtes Gesamtschuldverhältnis nicht besteht.

Das Ausgleichsverhältnis ist dann gestört, wenn für einen der Gesamtschuldner kraft Vertrages oder Gesetzes eine Haftungsfreistellung besteht. In der Regel wird infolge dieses gestörten Gesamtschuldverhältnisses der Anspruch des Geschädigten dahingehend gekürzt, dass sein Ersatzanspruch gegen den Mitschädiger um den Haftungsanteil des freigestellten Gesamtschuldners reduziert wird (vgl. Grüneberg, in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Auflage 2020, § 426 Rn. 18).

aa) § 1664 Abs. 1 BGB ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da die Straßenverkehrsregeln keinen Spielraum für eine individuelle Sorglosigkeit lassen (vgl. Huber, in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1664 Rn.

bb) Auch § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X führt hier nicht zu einer gestörten Gesamtschuld. Nach § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X ist ein Übergang nach Absatz 1 bei nicht vorsätzlichen Schädigungen durch Familienangehörige, die im Zeitpunkt des Schadensereignisses mit dem Geschädigten oder seinen Hinterbliebenen in Häuslicher Gemeinschaft leben, ausgeschlossen.

Eine häusliche Gemeinschaft ist grundsätzlich gegeben, wenn die Familienangehörigen im Zeitpunkt des Schadensereignisses für eine gewisse Dauer ihren Lebensmittelpunkt in einer gemeinsamen Wohnung haben und eine gemeinsame Wirtschaftsführung betreiben (vgl. BGH, Urteil vom 28.06.2011 - VI ZR 194/10; Waltermann, in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Auflage 2019, § 116 SGB X, Rn. 78). Jedoch ist auch von einer häuslichen Gemeinschaft auszugehen, wenn ein Elternteil, dessen Kind aufgrund der Trennung der Eltern nicht ständig bei ihm lebt, im Rahmen des ihm rechtlich möglichen Maßes tatsächlich Verantwortung für sein Kind übernimmt und häufigen Umgang mit diesem hat, der ein regelmäßiges Verweilen und Übernachten im Haushalt des Elternteils umfasst, sodass das Kind zeitweise auch in seinen Haushalt integriert ist und damit bei ihm ein Zuhause hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.10.2010 - 1 BvL 14/09). Ein Elternteil kommt dann in vollem, ihm rechtlich möglichen Umfang seiner elterlichen Verantwortung gegenüber seinem Kind nach, wenn er gemeinsam mit dem anderen Elternteil, bei dem sich das Kind vorrangig aufhält, die Sorge für das Kind trägt, regelmäßig den vereinbarten oder gerichtlich festgesetzten Kindesunterhalt zahlt und den verabredeten oder ihm eingeräumten regelmäßigen Umgang mit dem Kind praktiziert, der auch ein Verweilen des Kindes in seinem Haushalt umfasst (BVerfG, Beschluss vom 12.10.2010 - 1 BvL 14/09 - juris Rn. 62). Eine solche häusliche Gemeinschaft unterliegt in gleicherweise dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG wie diejenige, bei der Elternteil und Kind täglich Zusammenleben.

Dass zwischen dem Geschädigten und seinem Vater keine häusliche Gemeinschaft im Sinne des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X bestand, steht infolge der Aussage der Mutter des Geschädigten, der Zeugin ..., zur Überzeugung des Gerichts fest. Diese schilderte detailliert und widerspruchsfrei die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Unfalls und der Monate zuvor.

Eine häusliche Gemeinschaft kann nicht angenommen werden, da der Vater des Geschädigten unter anderem wegen seiner starken Spielsucht nicht ausreichend Verantwortung für den Geschädigten übernahm und auch seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht nachkam. Ein Übernehmen der elterlichen Verantwortung in dem rechtlich möglichen Umfang liegt hier nicht vor.

Der Geschädigte war in dem Jahr des Unfalls relativ häufig bei seinem Vater, da die Zeugin ... in diesem Jahr ihre Abschlussprüfung absolvierte und sich für einen Monat in Kanada aufhielt. Jedoch erfolgte die Betreuung durch den Vater nicht immer freiwillig, sondern stellte vielmehr einen stetigen Kampf für die Zeugin ... dar. Der Vater des Geschädigten hatte nicht viel Verständnis dafür, dass die Betreuung aufgeteilt werden musste. Der Lebensmittelpunkt lag nach deren Schilderungen bei der Zeugin .... Sie äußerte, dass man die Zeit, die der Geschädigte bei seinem Vater verbrachte, nicht als Alltag bezeichnen könnte.

In der Zeit, die der Geschädigte damals von seinem Vater betreut wurde, übernachtete er entweder mit seinem Vater bei dessen Eltern oder in der zu dem Restaurant des Vaters gehörenden Pächterwohnung, wobei in dieser Wohnung ein Kinderzimmer eingerichtet war. Der Vater hat jedoch den Geschädigten teilweise tagelang nicht zur Schule gebracht, weil es ihm zu anstrengend war, morgens aufzustehen. Auch das Jugendamt war bemüht, die kindgerechte Betreuung des Geschädigten sicherzustellen, indem der Vater etwa darauf hingewiesen wurde, dass bei der Fahrt Kindersitze zu verwenden sind.

Während der Betreuung durch den Vater gab es keine Regelmäßigkeiten. So wurde der Geschädigte teilweise zwischen der Großmutter, dem Vater und der Tante umhergereicht. Die Zeugin ... wusste während der Zeit, die der Geschädigte bei seinem Vater war, häufig nicht, wo er sich aufhielt. Auch gab es teilweise Zeiten, in denen der Geschädigte kein Frühstück beziehungsweise das Frühstück erst mittags bekommen hat. Manchmal äußerte der Geschädigte auch gegenüber der Zeugin ..., dass er mittags nur ein Eis zu essen bekommen hat.

Der Vater kam seinen Unterhaltsverpflichtungen in keiner Weise nach. Die Zeugin ... äußerte, dass sie nie Unterhalt von dem Vater des Geschädigten erhielt.

Dass die erforderliche Verantwortung durch den Vater des Geschädigten nicht übernommen wurde, zeigt sich auch aus den Folgen seiner starken Spielsucht. Er hat teilweise Geld aus dem Sparschein des Geschädigten entnommen und verspielt. Auch kam es vor, dass Geld, was an Geschenken für den Geschädigten angebracht war, durch den Vater entfernt wurde, um die Spielsucht weiter zu finanzieren.

(5) Der Anspruch der Klägerin zu 1) wurde durch die Beklagte der Höhe nach nicht bestritten. Der Anspruch der Klägerin zu 2) besteht jedoch lediglich in einer Höhe von 8.398,77 €. Die auf der Anlage K5 basierende Forderung in Höhe von 8.592,90€ war um einen Betrag in Höhe von 194.13 € zu kürzen. Soweit die Beklagte sich darauf beruft, dass sich der Geschädigte in den Zeiträumen 12.09.2016 bis 17.09.2016 sowie 13.06.2017 bis 20.07.2017 in stationärer Behandlung befand und daher in dieser Zeit keine zusätzlichen Pflegeleistungen erforderlich waren, für welche die Klägerin Leistungen erbringen musste, folgt das Gericht dieser Auffassung nur teilweise. Gemäß § 34 Abs. 2 S. 2 SGB XI ist Pflegegeld nach § 37 SGB XI in den ersten vier Wochen einer vollstationären Krankenhausbehandlung, einer häuslichen Krankenpflege mit Anspruch auf Leistungen, deren Inhalt den Leistungen nach § 36 SGB XI entspricht, oder einer Aufnahme in Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen nach § 107 Abs. 2 SGB V weiter zu zahlen. Mit dieser Regelung soll die Pflegebereitschaft der Pflegeperson unterstützt werden (vgl. Leitherer, in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand 107. EL Dezember 2019, § 34 SGB XI, Rn. 32). Vorliegend befand sich der Geschädigte ausweislich der Anlage K4 zwischen dem 12.09.2016 und dem 17.09.2016 in einer vollstationären Krankenhausbehandlung sowie im Zeitraum 13.06.2017 bis 20.07.2017 in einer stationären Reha. Für den ersten Zeitraum im September 2016 sind die Leistungen nach § 37 SGB XI nicht zu kürzen, da der Geschädigte sich lediglich eine Woche in stationärer Behandlung befand. Der zweite Zeitraum übersteigt die gemäß § 34 Abs. 2 S. 2 SGB XI nicht zu berücksichtigenden 4 Wochen um 8 Tage, da der 20.07.2017 der Abreisetag war, für den im Falle einer Kürzung die Zahlung des Pflegegeldes wieder aufgenommen wird (vgl. Diepenbruck, in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 55. Edition Stand 01.03.2019, § 37 SGB XI, Rn. 21). Der geltend gemachte Anspruch auf Pflegegeld nach § 37 Abs. 1 SGB XI war entsprechend einer Dauer von 8 Tagen und auf der Basis, dass ein Kalendermonat stets mit einer Dauer von 30 Tagen anzusetzen ist (vgl. Leitherer, in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand 107.EL Dezember 2019, § 37 SGB XI, Rn. 32) um 194,13 € zu kürzen.

Ein Hinweis nach § 139 Abs. 2 S. 1 ZPO war dahingehend nicht erforderlich, da es sich um keinen Umstand handelt, den die Klägerin erkennbar übersehen hat. Bereits mit dem außergerichtlichen Schreiben vom 27.09.2017 (Anlage K7) kürzte die Beklagte den Anspruch der Klägerin zu 2) um einen Betrag, der durch die Klägerin zu 2) für eine Zeit erbracht wurde, in der sich der Geschädigte in stationärer Behandlung befand. Die Klägerin zu 2) verweist hierauf selbst auf S. 14 der Klageschrift vom 29.01.2018. Eine Hinweispflicht bestand zudem nicht, da es sich bei dem in Abzug gebrachten Teil der Hauptforderung um einen im Verhältnis hierzu relativ geringen Betrag von unter 1 % handelt (Greger, in Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, § 139 Rn. 8).

3. Der Anspruch der Klägerinnen ergibt sich zudem aus § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. § 116 Abs. 1 SGBX.

4. Da der Anspruch besteht, besteht auch ein Anspruch der Klägerinnen gegen die Beklagte auf Zahlung der außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten.Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 288 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 286 BGB.

5. Soweit im Rahmen des in der Verhandlung vom 10.03.2020 nachgelassenen Schriftsatzrechts durch den Schriftsatz vom 11.04.2020 vorgetragen wurde, ist darin kein neuer Tatsachenvortrag erkennbar. Dieser Vortrag beschränkt sich auf eine Stellungnahme zu der in der mündlichen Verhandlung erfolgten Beweisaufnahme. Es bestand daher keine Notwendigkeit, gemäß § 156 ZPO erneut in die mündliche Verhandlung einzutreten.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO. Danach kann das Gericht einer Partei die gesamten Prozesskosten auferlegen, wenn die Zuvielforderung der anderen Partei verhältnismäßig geringfügig war und keine oder nur geringfügig höhere Kosten veranlasst hat.

a) Die Zuvielforderung der Klägerin zu 2) ist im Verhältnis zu der Gesamtforderung geringfügig. Eine Geringfügigkeit wird ab einer Grenze von 10 % angenommen (vgl. Herget, in Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, § 92 Rn. 10). Hier liegt die Zuvielforderung bei lediglich 194,13 €. Dies entspricht bezogen auf die die Klägerin zu 2) betreffenden Klageanträge Ziff. 3 und Ziff. 4 unter 1 %.

b) Durch die Zuvielforderung der Klägerin zu 2) sind auch keine höheren Kosten entstanden.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 709 ZPO.

Der Streitwert bemisst sich für die Ziffern 1 und 3 nach den entsprechend geforderten Beträgen, somit für Ziffer 1 139.400,31 € und für Ziffer 3 8.592,90 €. Der Feststellungsantrag Ziffer. 2 ist mit 50.000,00 € und der Feststellungsantrag Ziffer 4 mit 20.000 € anzusetzen.

 

NACHGEHEND:

 

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. September 2020 – 4 U 97/20 (Hinweisbeschluss):

 

  1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau vom 08.05.2020, Az. 6 O 37/18, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
  2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis 16.10.2020.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um gem. § 116 SGB X übergegangene Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall, den der beim Unfall getötete Vater des Geschädigten und ein weiterer, über den beklagten Verein haftpflichtversicherter Verkehrsteilnehmer verursacht haben. Das Landgericht, auf dessen Feststellungen zum erstinstanzlichen Sach- und Streitstand verwiesen wird, hat den Beklagten wie folgt verurteilt:

  1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 1) 139.400,31 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 29.09.2017 zu zahlen.
  2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte darüber hinaus verpflichtet ist, der Klägerin zu 1) über das Teilanerkenntnisurteil vom 30.08.2018 hinaus weitere 2/3 sämtlicher weiterer Schäden - auch über die Haftungshöchstgrenze des § 12 StVG hinaus - zu ersetzen, die der Klägerin zu 1) aus der Verletzung des ... vom 13.09.2015 aufgrund des Unfalls auf der BAB 5 von Basel in Richtung Karlsruhe in der Gemarkung Neuenburg entstanden sind oder noch entstehen werden.
  3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 2) 8.398,77 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 29.09.2017 zu zahlen.
  4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte darüber hinaus verpflichtet ist, der Klägerin zu 2) Über das Teilanerkenntnisurteil vom 30.08.2018 hinaus weitere 2/3 sämtlicher weiterer Schäden - auch über die Haftungshöchstgrenze des 5 12 StVG hinaus - zu ersetzen, die der Klägerin zu 2) aus der Verletzung des ... vom 13.09.2015 aufgrund des Unfalls auf der BAB 5 von Basel in Richtung Karlsruhe in der Gemarkung Neuenburg entstanden sind oder noch entstehen werden.
  5. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerinnen als Gesamtgläubiger vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 2.784,50 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.03.2018 zu zahlen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der dieser beantragt: Das Urteil des LG Freiburg vom 08.05.2020, 6 O 37/18 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen, hilfsweise: Das Verfahren wird zur Durchführung der Beweisaufnahme an das Landgericht Freiburg zurückverwiesen.

Die Klägerinnen beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Bezüglich weiterer Einzelheiten wird auf die beiderseitigen Schriftsätze nebst Anlagen, die Protokolle sowie den Akteninhalt verwiesen.

 

II.

Die Berufung ist zulässig, aber in der Sache ohne Erfolgsaussicht.

Ihre Angriffe erschöpfen sich in dem Einwand, es liege im Hinblick auf das Angehörigenprivileg (§ 116 Abs. 6 SGB X) eine "gestörte Gesamtschuld" vor, weshalb die Haftung der Beklagten um den Verschuldensanteil des Vaters des Geschädigten zu kürzen sei und sich richtigerweise auf eine Quote von 25 % beschränke; eine Haftungsquote von 1/3 werde jedoch akzeptiert.

Dieser Einwand geht jedoch fehl, da die Voraussetzungen des Angehörigenprivilegs nach § 116 Abs. 6 SGB X nicht vorliegen. Dieses setzt voraus, dass Geschädigter und Schädiger in häuslicher Gemeinschaft leben. Dies ist hier nicht der Fall. Zwar ist von einer häuslichen Gemeinschaft auch dann auszugehen, wenn ein Elternteil mit seinem Kind zwar nicht ständig zusammenlebt, aber seiner Elternverantwortung in dem ihm rechtlich möglichen Maße tatsächlich nachkommt und regelmäßig längeren Umgang mit seinem Kind pflegt, sodass das Kind zeitweise auch in seinen Haushalt integriert ist und damit bei ihm ein Zuhause hat (BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2010 - 1 BvL 14/09 -, BVerfGE 127, 263-292, juris Rn. 37). Schöpft hingegen der getrenntlebende Elternteil seine rechtlichen Möglichkeiten, sich um das Kind zu kümmern, nicht aus, und tut er nur (oder nicht einmal) das, wozu er (unterhalts-​)rechtlich verpflichtet ist, so ist der wirtschaftliche Schutz des Kindes bereits über die dem Elternteil zugutekommenden Pfändungsschutzvorschriften gewährleistet (BVerfG a.a.O. Rn. 51). Die Anwendung des Angehörigenprivilegs auf einen getrenntlebenden Elternteil setzt daher voraus, dass dieser zumindest regelmäßig den vereinbarten oder gerichtlich festgesetzten Kindesunterhalt zahlt und den verabredeten oder ihm eingeräumten Umgang mit dem Kind, der auch ein Verweilen des Kindes in seinem Haushalt umfasst, in vollem, ihm rechtlich möglichen Umfang wahrnimmt (BVerfG a.a.O. Rn. 62).

Nach diesen Grundsätzen greift das Angehörigenprivileg im vorliegenden Fall nicht. Der Vater des Geschädigten hat weder seine Unterhaltspflicht erfüllt noch sein Umgangsrecht ausgeschöpft. Auf die vom Landgericht und der Berufungserwiderung der Klägerinnen (dort S. 4/5, II 27/28) zutreffend dargestellten Umstände wird verwiesen.

 

NACHGEHEND: Zurückweisungsbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO

 

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. Januar 2021 – 4 U 97/20:

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau vom 08.05.2020, Aktenzeichen 6 O 37/18, wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
  3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
  4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 217.993,21 € festgesetzt.

 

Gründe

Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes und der im Berufungsverfahren gestellten Anträge wird auf den vorangegangenen Hinweisbeschluss des Senats vom 25.09.2020 (dort unter I. der Gründe) verwiesen.

Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau vom 08.05.2020, Aktenzeichen 6 O 37/18, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.

Zur Begründung wird auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats Bezug genommen.

Der Senat hält auch in Ansehung der Gegenerklärung der Beklagten und des von der Streithelferin eingereichten Schriftsatzes daran fest, dass das Familienprivileg im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung gelangt.

Der Geschädigte lebte im Unfallzeitpunkt grundsätzlich bei seiner Mutter und befand sich lediglich aufgrund eines temporären Auslandsaufenthaltes der Mutter für einige Zeit beim Vater. Dadurch wurde dieser jedoch nicht zum betreuenden Elternteil, sondern blieb barunterhaltspflichtig. Dass er seiner Barunterhaltspflicht nicht nachkam, war erstinstanzlich unstreitig. Die nunmehrige Behauptung, er habe Unterhaltszahlungen an die Unterhaltsvorschusskasse geleistet, scheitert - ungeachtet der Frage, ob sie hinreichend substantiiert oder "ins Blaue hinein" aufgestellt ist - am Novenausschluss gem. §§ 529, 531 ZPO. Denn die Beklagte, die die volle Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des Familienprivilegs trägt, hat erstinstanzlich nichts in diese Richtung vorgetragen; eine dahingehende Anregung gehörte nicht zur Hinweispflicht des Landgerichts (§ 139 ZPO), sondern wäre einer unzulässigen Hilfestellung gleichgekommen. Dem auf Vernehmung eines Jugendamtsmitarbeiters gerichteten Beweisantrag der Streithelferin war daher nicht nachzugehen.

Ist somit von einer Unterhaltspflichtverletzung auszugehen, kann die Beklagte sich auch nicht auf das Familienprivileg bzw. das Vorliegen einer "gestörten Gesamtschuld" berufen. Entgegen der Auffassung der Beklagten und der Streithelferin hat das Landgericht den Vater des Geschädigten nicht an den - in der Tat unmaßgeblichen - Wünschen und Anforderungen der Kindesmutter und an ihrem Beziehungsverständnis gemessen, sondern sich zutreffend an den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen für die Anwendbarkeit des Familienprivilegs auf getrenntlebende Elternteile orientiert.

Lebt das Kind überwiegend beim anderen Elternteil und befindet es sich nur während der Umgangszeiten beim schädigenden Elternteil, so findet das Familienprivileg nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur Anwendung, wenn das Verhältnis des Schädigers zum Kind dadurch geprägt ist, dass er "im Rahmen des ihm rechtlich möglichen Maßes tatsächlich Verantwortung für sein Kind übernimmt" und "häufigen Umgang mit dem Kind hat, der ein regelmäßiges Verweilen und Übernachten im Haushalt des Elternteils umfasst" (BVerfG, Beschluss vom 12.10.2010 - 1 BvL 14/09 -, BVerfGE 127, 263-292 - juris, Leitsatz). Die erforderliche "Verantwortungsübernahme im Rahmen des rechtlich möglichen Maßes" definiert das Bundesverfassungsgericht wie folgt:

"Trägt ein Elternteil mit dem anderen Elternteil, bei dem sich sein Kind vorrangig aufhält, gemeinsam die Sorge für das Kind oder ist allein aus Kindeswohlgründen nicht ihm, sondern dem anderen Elternteil die Alleinsorge eingeräumt, zahlt er regelmäßig den vereinbarten oder gerichtlich festgesetzten Kindesunterhalt und praktiziert den verabredeten oder ihm eingeräumten regelmäßigen Umgang mit dem Kind, der auch ein Verweilen des Kindes in seinem Haushalt umfasst, kommt dieser Elternteil in vollem, ihm rechtlich möglichen Umfang seiner elterlichen Verantwortung seinem Kind gegenüber nach." (BVerfG a.a.O. Rn. 62, Hervorhebungen nur hier)."

Im Fortgang heißt es (Rn. 63):

"In einem solchen Eltern-​Kind-​Verhältnis wird regelmäßig auch der barunterhaltspflichtige Elternteil aus seiner Haushaltskasse Leistungen für das Kind erbringen, die dessen Verpflegung und Unterhaltung betreffen sowie Fahrtkosten umfassen und damit über seine Verpflichtung zur Unterhaltszahlung hinausgehen. Die Tätigung solcher Ausgaben für das Kind wäre ihm aber nicht mehr wie bisher möglich, wenn der Sozialleistungsträger wegen eines übergegangenen Schadensersatzanspruchs des Kindes auf ihn Rückgriff nehmen würde".

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird allgemein dahin verstanden, dass der getrenntlebende Elternteil, um in den Genuss des Familienprivilegs zu kommen, Barunterhalt zu Händen des betreuenden Elternteils zahlen und während der Umgangszeiten direkt für das Kind aufkommen und ihm entsprechende Zuwendungen machen, sich also in jeder Hinsicht "idealtypisch" verhalten und "allen Pflichten nachkommen" muss (Stumpf NJ 2011, 496, 500; ebenso in der Sache Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 18.08.2016 - 12 U 134/15 - juris, Rn. 15 a. E. und Bernau, FamRZ 2010, 2050, 2056; ders. NZV 2013, 296, 297). Daran fehlt es, wenn der Vater - wie hier - seiner Barunterhaltspflicht nicht nachkommt und das Kind sogar bestiehlt.

Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur bezüglich des Unterhalts, sondern auch bezüglich der Ausübung des Umgangsrechts ein "idealtypisches" Verhalten erforderlich ist, damit der getrenntlebende Elternteil unter das Familienprivileg fällt. Daran fehlt es, wenn er den ihm eingeräumten Umgangsumfang - wie hier - nicht "voll ausschöpft" (Bernau NZV 2013, 296; ebenso in der Sache Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 18.08.2016 - 12 U 134/15 - juris, Rn. 19) bzw. sich während der Umgangszeiten nicht er, sondern die Großmutter des Kindes um dieses kümmert (Lang, jurisPR-​VerkR 17/2017 Anm. 2).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß § 708 Nr. 10 ZPO. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47, 48 GKG bestimmt.