Im Regress der Krankenkasse nach § 116 SGB X wird die Richtigkeit der Krankenhausabrechnung grundsätzlich nicht mehr überprüft - LG Magdeburg, Urteil vom 14. März 2023 - 2 O 1150/21 (veröffentlicht bei juris und beck-online)
LG Magdeburg, Urteil vom 14. März 2023 – 2 O 1150/21 –, juris
Tenor
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin zu 1. einen Betrag in Höhe von 221.567,72 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag i.H.v. 204.073,10 € für den Zeitraum vom 24.04.2021 bis 24.05.2021 sowie aus 221.567,72 € seit dem 25.05.2021 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zu 1. sämtliche weiteren Schäden zu ersetzen, die der Klägerin zu 1. aus dem Schadensereignis des ..., vom 26.06.2020 gegen 7:55 Uhr an der Kreuzung der B. Straße/ W.-Straße in ... G. entstanden sind und noch entstehen werden.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin zu 2. sämtliche weiteren Schäden zu ersetzen, die der Klägerin zu 2. aus dem Schadensereignis des ..., vom 26.06.2020 gegen 7:55 Uhr an der Kreuzung der B. Straße/W.-Straße in ... G. entstehen werden.
4. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin zu 1.3449,81 € nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23.09.2021 zu zahlen.
5. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
6. Die Kosten des Verfahrens tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
7. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Streitwert: Stufe bis 440.000,- €
Tatbestand
Die Klägerin zu 1. nimmt die Beklagte aus übergegangenem Recht (§ 116 SGB X) auf Ersatz stationärer Krankenhaus- und Heilbehandlungskosten und weiterer Kosten wie Krankengeld, Transportkosten, Kosten für Hilfsmittel und einer stationären Rehabilitationsbehandlung in Anspruch, die sie für ihren Versicherungsnehmer ... (folgend Geschädigter) aufgewandt hat. Zudem begehren die Klägerin zu 1. und die Klägerin zu 2. die Feststellung, dass die Beklagten als Gesamtschuldner darüber hinaus verpflichtet sind, weitere Schäden zu ersetzen, die durch das nachfolgend geschilderte Schadensereignis entstanden sind und noch entstehen werden.
Am 26.06.2020 gegen 7:55 Uhr befuhr ... mit seinem Motorrad mit dem amtlichen Kennzeichen ... die bevorrechtigte B. Straße in 3. G.. An der Kreuzung W.-Straße kam aus der W.-Straße aus Sicht des Geschädigten von rechts der von dem Beklagten zu 1. geführte und gehaltene und bei der Beklagten zu 2. Kfz-haftpflichtversicherte Pkw vom Typ VW Tiguan mit dem amtlichen Kennzeichen .... Der Beklagte zu 1. wollte nach links abbiegen und hatte gegenüber dem Geschädigten das Zeichen 205 (Vorfahrt gewähren) zu beachten, fuhr aber trotzdem unachtsam weiter, sodass es zur Kollision kam. Der Geschädigte flog über den linken Kotflügel des Pkw und stürzte auf die Straße, wo er schwerstverletzt liegen blieb. Der Beklagte zu 1. wurde vom Amtsgericht Bernburg wegen fahrlässiger Körperverletzung rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt.
Die Klägerin zu 1. hat die Beklagte zu 2. mit am Folgetag zugegangenem Schreiben vom 24.08.2020 (Bl. 21 ff. Bd. I d.A.) aufgefordert, die streitgegenständlichen Kosten für die Krankenhausbehandlung vom 26.06.2020 in der A. Klinik Aschersleben i.H.v. 1.438,74 € zu begleichen. Hierauf zahlte die Beklagte zu 2. 1.428,74 €, also den abgerechneten Betrag abzüglich 10 € für behauptete ersparte Aufwendungen.
Die Klägerin zu 1. hat die Beklagte zu 2. fruchtlos mit am Folgetag zugegangenem Schreiben vom 05.10.2020 (Bl. 32 f. Bd. I d.A.) aufgefordert, einen Betrag i.H.v. 6.870,25 € zu begleichen. Hierbei handelt es sich um das Krankengeld für den Zeitraum 07.08.2020 bis 30.09.2020.
Die Klägerin zu 1. hat die Beklagte zu 2. fruchtlos mit am Folgetag zugegangenem Schreiben vom 13.11.2020 (Bl. 34 ff. Bd. I d.A.) aufgefordert, einen Betrag i.H.v. 8.808,07 € zu begleichen. Hierbei handelt es sich um Fahrtkosten vom 26.06.2020 (Unfalltransport ins Klinikum Aschersleben sowie Weitertransport ins BG-Klinikum B. in H.) sowie um das Krankengeld für den Zeitraum vom 01.10.2020 bis 26.10.2020. Beigefügt war der EDV-Beleg über das Krankengeld sowie das für die Berechnung des Krankengeldes gemäß § 47 SGB V maßgebliche in den letzten 3 vor Monaten vor dem Unfall gezahlte Gehalt.
Die Klägerin zu 1. hat die Beklagte zu 2. fruchtlos mit am Folgetag zugegangenem Schreiben vom 27.11.2020 (Bl. 38 ff. Bd. I d.A.) aufgefordert, einen Betrag i.H.v. 188.447,78 € zu begleichen. Hierbei handelt es sich um die Kosten für die Krankenhausbehandlung des Geschädigten im Zeitraum vom 26.06.2020 bis 06.10.2020 im BG-Klinikum B. in H. von 188.727,78 € abzüglich der Zuzahlung von 280,00 €. Der Abrechnung wurden die Abrechnungsbelege des Krankenhauses, insbesondere der Datensatz nach § 301 SGB V, beigefügt. Mit Schreiben vom 28.12.2020 wurden diese Unterlagen nochmals sowie weitere Unterlagen überreicht.
Mit Schreiben vom 13.01.2021 (Bl. 56 Bd. I d.A.) bat der von der Beklagten zu 2. mit der Schadensregulierung beauftragte und bevollmächtigte Dienstleister A. um weitere Unterlagen, woraufhin die Klägerin mit Schreiben vom 01.04.2021 die Radiologiebefunde vom 13.08.2020, 11.09.2020 und 21.09.2020; die OP-Berichte vom 31.08.2020, 17.08.2020, 14.08.2020, 01.08.2020, 27.07.2020, 24.07.2020, 22.07.2020, 20.07.2020 und 19.07.2020; die Reha-Anträge vom 25.08.2020 und 08.09.2020; den Arztbericht vom 07.07.2020 sowie die Schwerstverletztendokumentation vom 26.06.2020 überreichte (Bl. 57-107 Bd. I).
Mit Schreiben vom 13.04.2021 (Bl. 108 Bd. I d.A.) forderte die A. GmbH weitere Unterlagen ab. Dieser Aufforderung kam die Klägerin zu 1. nicht nach.
Die Klägerin zu 1. mahnte die A. GmbH mit Schreiben vom 22.04.2021 (Bl. 109 f. Bd. I) und setzte eine Zahlungsfrist bezüglich aller Außenstände bis zum 06.05.2021. Zahlungen wurden daraufhin nicht geleistet.
Die Klägerin zu 1. hat die Beklagte zu 2. zudem fruchtlos mit am Folgetag zugegangenem Schreiben vom 22.04.2021 (Bl. 111 f. Bd. I d.A.) aufgefordert, Kosten i.H.v. 17.494,62 € zu begleichen. Hierbei handelt es sich um diverse Hilfsmittel, Fahrkosten, eine stationärer Reha-Frührehabilitation sowie um Krankengeld im Zeitraum vom 27.10.2020 bis 25.11.2020.
Die Klägerin zu 1. behauptet, dass der Geschädigte ... unter anderem folgende Verletzungen erlitten habe:
- Polytrauma
- anoxische Hirnschädigung
- Hirninfarkt
- Aszites
- Rektumverletzung
- Ileostoma
- Septischer Schock
- Querfortsatzfrakturen LWK 4/5
- Deckenplattenimpressionsfraktur BWK 2
- diffuser axonaler Schaden
- Fraktur des os sacrum
- Candida-Sepsis
- Rippenserienfraktur 4-10
- Pleuraerguss
- traumatischer Pneumothorax
- Spondylose
- Ulna- und Radiusfraktur
- Fraktur des os pubis
- Streptokokkenpneumonie
Die Klägerin zu 1. habe daher aufgrund des Vorfalls bzw. des dadurch entstandenen Gesundheitsschadens des Geschädigten Leistungen i.H.v. 221.577,72 € erbracht.
Sie ist der Auffassung, dass keine Pflicht bestehe, den Beklagten bzw. der von der Beklagten zu 2. beauftragten A. GmbH weitere Unterlagen aus der Patientenakte zum Krankenhausaufenthalt vom 26.06.2020 bis 06.10.2020 zukommen zu lassen.
Die Klägerinnen beantragen zu erkennen:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin zu 1. 221.577,72 € nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 24.04.2021 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner darüber hinaus verpflichtet sind, der Klägerin zu 1. sämtliche weiteren Schäden zu ersetzen, die der Klägerin zu 1. aus dem Schadensereignis des ..., vom 26.06.2020 gegen 7:55 Uhr an der Kreuzung der B. Straße/ W.-Straße in ... G. entstanden sind und noch entstehen werden.
3. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin zu 1. 3.449,81 € vorgerichtliche Anwaltskosten ihres jetzigen Prozessbevollmächtigten nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
4. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner darüber hinaus verpflichtet sind, der Klägerin zu 2. sämtliche Schäden zu ersetzen, die der Klägerin zu 2. aus dem Schadensereignis des ... vom 26.06.2020 gegen 7:55 Uhr an der Kreuzung der B. Straße/ W.-Straße in ... G. entstehen.
Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
Die Beklagten erklären sich zu den von der Klägerin behaupteten Aufwendungen, zu der Höhe und dazu, dass die Klägerin den Betrag tatsächlich aufgewandt hat, die Leistung erbracht worden ist, sowie zu den den Aufwendungen zugrunde liegenden Verletzungsfolgen und den (vermeintlich) erforderlichen Behandlungsregimen sowie zu allen Umständen mit Nichtwissen, die weder eigene Handlungen noch eigene Wahrnehmungen der Beklagten betreffen und sind der Auffassung, dass dies ausreichend sei.
Sie behaupten, es fehle an der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität.
Sie sind zudem der Auffassung, dass es an der Fälligkeit fehle, weil der A. GmbH nicht die abgeforderten Unterlagen überreicht worden seien.
Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Magdeburg mit dem Az. ... ist zu Beweiszwecken beigezogen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die eingereichten Schriftsätze und Anlagen sowie auf die Protokolle der öffentlichen Sitzungen vom 26.04.2022 und 31.01.2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
I. Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung eines Betrages in Höhe von 221.567,72 €.
1. Die Beklagten haften für die materiellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 26.06.2020 dem Grunde nach mit einer Haftungsquote von 100 %. Dies ergibt sich aus § 116 Abs. 1 SGB X i.V.m. §§ 7 Abs. 1, 11, 18 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG. Der Verkehrsunfall wurde durch ein vorwerfbares Verhalten des Beklagten zu 1) verursacht, so dass die Beklagten dem Grunde nach für entstandene Schäden haften. Ein mitwirkendes Verschulden nach §§ 9 StVG, 254 BGB des Geschädigten ... wird von den Beklagten schon nicht behauptet.
Durch das Unfallereignis am 26.06.2020 wurden Körper und Gesundheit des Geschädigten ... bei Betrieb des Kraftfahrzeugs des Beklagten zu 1. verletzt. Dieses Fahrzeug war bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversichert.
Der Beklagte zu 1. hätte bei Beachtung der gebotenen Aufmerksamkeit den Unfall vermeiden können. Er hat gegen das Vorfahrtsgebot des § 8 StVO verstoßen.
Ein Fall höherer Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG nicht vor.
Auch die haftungsbegründende Kausalität liegt vor. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Betrieb des von dem Beklagten zu 1. gesteuerten Kraftfahrzeugs in einer Weise auf das geschützte Rechtsgut in Form des Körpers und der Gesundheit des Geschädigten ... eingewirkt hat, die nachteilige Folgen auslösen kann. Es ist nämlich unstreitig, dass der Beklagte zu 1. dem Geschädigten ... die Vorfahrt genommen hat und dieser durch das Unfallereignis verletzt wurde.
Die haftungsausfüllende Kausalität steht ebenfalls zur Überzeugung der Kammer fest. Die haftungsausfüllende Kausalität ist der Ursachenzusammenhang zwischen dem Haftungsgrund (Rechtsgutverletzung) und dem entstandenen Schaden (Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, Vorb v § 249, Rn. 24).
Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Sinne von § 287 ZPO ist festzustellen, dass die bei Herrn ... aufgetretenen Schäden in ihrer Gesamtheit bei diesem Unfall entstanden sind. Der Geschädigte wurde bei dem Unfallereignis schwer verletzt. Die diversen Verletzungen ergeben sich insbesondere aus der Krankenhausrechnung zur Behandlung im Zeitraum vom 26.06.2020 bis 06.10.2020 im BG-Klinikum B. in H.. Aus dieser Abrechnung ergeben sich auch die durchgeführten zahlreichen Prozeduren. Entsprechendes kann zudem den als Anl. K8 vorgelegten Radiologiebefunden vom 13.08.2020,11.09.2020 und 21.09.2020, den OP-Berichten vom 31.08.2020, 17.08.2020,14.08.2020, 01.08.2020, 27.07.2020, 24.07.2020, 22.07.2020, 20.07.2020 und 19.07.2020, den Reha-Anträgen vom 25.08.2020 und 08.09.2020 sowie insbesondere dem Arztbericht vom 07.10.2020 entnommen werden. Diese Unterlagen lagen auch bereits vorgerichtlich der von der Beklagten zu 2. eingeschalteten A. GmbH vor. Aus dem Arztbericht vom 07.10.2020 ergibt sich, dass die Aufnahme am 26.06.2020 erfolgte, nachdem der Geschädigte ... als Motorradfahrer einen Verkehrsunfall mit Polytrauma erlitten hat. Sodann heißt es, dass sich in der Primärdiagnostik vor allem eine traumatische Rektumperforation, eine Rippenserienfraktur rechts, ein Pneumothorax und Weichteilemphysem rechts, eine grob dislozierte Trümmerfraktur des Unterarm rechts, Querfortsatzfrakturen LWK 4/5 rechts und eine Deckenplattenimpressionsfraktur BWK 2 ergaben. In sämtlichen Unterlagen findet sich keinerlei Hinweis darauf, dass einer der Schäden nicht auf den Unfall zurückzuführen war.
Die Beklagten erklären sich zu allem pauschal mit Nichtwissen. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 26.04.2022 wurde auch darauf hingewiesen, dass ein solches Bestreiten nicht hinreichend ist. Im nachgelassenen Schriftsatz vom 07.06.2022 beschränken sich die Beklagten jedoch darauf weiterhin alles mit Nichtwissen zu bestreiten und zu begründen, warum sie dies für zulässig erachtet. Dabei verkennen sie jedoch, dass die Klägerin zu 1) bereits mit der Klageschrift entsprechenden Nachweise erbracht hat. Hinzu kommt, dass sie sich auch das Wissen der von ihr eingesetzten A. GmbH zurechnen lassen muss. Ein pauschales Bestreiten mit Nichtwissen ist aufgrund der vorliegenden Nachweise unsubstantiiert und der Vortrag der Klägerin zu 1. nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden zu werten.
2.
a) Die Klägerin zu 1. hat keinen Anspruch gegen die Beklagten auf Zahlung von 10,00 € aus der Rechnung zum Krankenhausaufenthalt am 26.06.2020 im A. Klinikum Aschersleben. Von den abgerechneten 1.438,74 € hat die Beklagte zu 2. bereits 1.428,74 € gezahlt. Die Klägerin muss sich ersparte Aufwendungen des Geschädigten anrechnen lassen. Ersparte Aufwendungen sind wegen ihres engen Zusammenhangs mit dem entstandenen Nachteil nach der Differenzhypothese grundsätzlich anzurechnen. Anzurechnen sind bei Krankenhaus-, Pflegeheim- oder Kuraufenthalt die ersparten häuslichen Verpflegungskosten von 5-10 € pro Tag und zwar auf die Heilbehandlungskosten (Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, Vorb v § 249, Rn. 93). Die Beklagte war daher berechtigt 10,00 € für ersparte Aufwendungen abzuziehen.
b) Die Klägerin zu 1. hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 6.817,25 € für gezahltes Krankengeld für den Zeitraum vom 07.08.2020-30.09.2020. Das für die Berechnung des Krankengeldes gemäß § 47 SGB V maßgebliche in den letzten drei Vormonaten vor dem Unfall gezahlte Gehalt von März 2020: 4.268,37 € brutto/ 2.622,35 € netto, April 2020: 4.003,03 € brutto/ 2.491,45 € netto, Mai 2020: 4.250,08 € brutto/2.613,42 € netto (Bl. 37 Bd. I) wurde der Beklagten mit am Folgetag zugegangenem Schreiben vom 13.11.2020 übermittelt. Substantiierte Einwendungen werden nicht geltend gemacht.
c) Die Klägerin zu 1. hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 8.808,07 € für Fahrkosten vom 26.06.2020 (Unfalltransport in das A. Klinikum Aschersleben sowie Weitertransport in das BG-Klinikum B. in H.) sowie gezahltem Krankengeld für den Zeitraum vom 01.10.2020 bis 26.10.2020. Mit Schriftsatz vom 10.04.2022 hat die Klägerin die entsprechenden Verordnungen einer Krankenbeförderung des Geschädigten ... sowie die Abrechnungen der R. Rechenzentrum f. H. GmbH vorgelegt. Es handelt sich hierbei um Sammelrechnungen, wobei sich aus den darüber hinaus überreichten Unterlagen die dem Geschädigten zugeordneten Einzelbeträge ergeben. Substantiierte Einwendungen werden nicht geltend gemacht.
d) Die Klägerin zu 1. hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 188.447,78 € für die stationäre Krankenhausbehandlung im Zeitraum vom 26.06.2020 bis 06.10.2020 im BG-Klinikum H. B.. Dabei wurde bereits die Zuzahlung des Geschädigten i.H.v. 280,00 € berücksichtigt.
Die Klägerin zu 1. war nicht gegenüber den Beklagten bzw. der von der Beklagten zu 2.eingeschalteten A. GmbH verpflichtet, weitere Behandlungsunterlagen beizubringen. Die bereits zur Verfügung gestellten Unterlagen waren ausreichend, um zu beurteilen, dass der Krankenhausaufenthalt auf dem Unfallereignis vom 26.06.2020 beruhte.
Die Rechnung des Krankenhauses ist hingegen im zivilrechtlichen Regress nicht mehr zu überprüfen. Das Krankenhaus hat gegenüber der Klägerin zu 1. als gesetzliche Krankenversicherung des Geschädigten abgerechnet. Die Klägerin zu 1. selbst hatte bei Zweifeln an der sachlich-rechnerischen Richtigkeit die Möglichkeit gemäß § 275 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes (MD) einzuholen. Dabei ist zu beachten, dass sie diese Entscheidung lediglich anhand der ihr übermittelten Daten nach § 301 SGB V zu treffen hat. Nur der MD ist im Falle der Abrechnungsprüfung nach § 276 Abs. 2 S. 1 HS 2 SGB V ermächtigt, die erforderlichen Sozialdaten bei dem Krankenhaus anzufordern. Die Krankenkasse selbst hat kein Einsichtsrechts in die Behandlungsunterlagen. Zu berücksichtigen ist zudem, dass seit dem 01.01.2020 die Rechnungsprüfung durch die Krankenkassen stark eingeschränkt wurde. Seitdem ist es Krankenkassen gemäß § 275c Abs. 2 SGB V in der Fassung ab dem 01.01.2020 nur noch möglich, Rechnungen im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Prüfquoten zu überprüfen. Korrespondierend wurde in § 17c Abs. 2 a) S. 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) geregelt, dass nach Übermittlung der Abrechnung an die Krankenkasse eine Korrektur ausgeschlossen ist, es sei denn, dass die Korrektur zur Umsetzung eines Prüfergebnisses des MDK oder eines rechtskräftigen Urteils erforderlich ist. Nach Abschluss einer Prüfung nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V erfolgen gemäß § 17c Abs. 2a) S. 2 KHG keine weiteren Prüfungen der Krankenhausabrechnung durch die Krankenkasse oder den Medizinischen Dienst. Gemäß § 17c Abs. 2 b) S. 1 KHG findet eine gerichtliche Überprüfung einer Krankenhausabrechnung über die Versorgung von Patientinnen und Patienten zudem nur statt, wenn vor der Klageerhebung die Rechtmäßigkeit der Abrechnung einzelfallbezogen zwischen Krankenkasse und Krankenhaus erörtert worden ist, wobei die Krankenkasse und das Krankenhaus eine bestehende Ungewissheit über die Rechtmäßigkeit der Abrechnung durch Abschluss eines einzelfallbezogenen Vergleichsbetrages beseitigen können (§ 17c Abs. 2 b) S. 2 KHG). Einwendungen und Tatsachenvortrag in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Krankenhausabrechnung können im gerichtlichen Verfahren nicht geltend gemacht werden, wenn sie im Rahmen der Erörterung nach Satz 1 nicht oder nicht innerhalb der in der Verfahrensregelung nach Absatz 2 Satz 2 Nummer 8 vorgesehenen Frist, deren Lauf frühestens mit dem Inkrafttreten der Verfahrensregelung beginnt, schriftlich oder elektronisch gegenüber der anderen Partei geltend gemacht worden sind, und die nicht fristgemäße Geltendmachung auf von der Krankenkasse oder vom Krankenhaus zu vertretenden Gründen beruht (§ 17c Abs. 2 b) S. 3 KHG).
Die Abrechnung kann insoweit nicht mehr nachgelagerten Regress zwischen Krankenkasse und Schädiger angegriffen werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn keine offensichtlichen Abrechnungsfehler vorliegen, denen die klagende Krankenkasse nicht nachgegangen ist. Anhaltspunkte für offensichtliche Abrechnungsfehler sind nicht ersichtlich und insbesondere auch von den Beklagten nicht vorgetragen.
Sofern man den Beklagten ein umfassendes Prüfungsrecht für die Krankenhausrechnung zugestehen würde und diese im Rahmen der Prüfung eine Rechnungskorrektur geltend machen würden, würde dies dazu führen, dass im hiesigen Verfahren die Krankenhausabrechnung umfassend zu überprüfen wäre. Im Falle der Rechnungskürzung könnte die Krankenkasse jedoch nicht mehr vom Krankenhaus die Korrektur der Abrechnung verlangen und die Kosten würden bei ihr und damit der Versichertengemeinschaft, deren Gelder die Krankenkasse verwaltet, verbleiben. Es ist jedoch nicht einzusehen, weshalb das Risiko einer nicht offensichtlich unzutreffend abgerechneten Krankenhausbehandlung von der Klägerin/ dem Geschädigten zu tragen ist.
Die A. GmbH hatte von der Klägerin zu 1. u.a. bereits folgende Unterlagen erhalten: die Radiologiebefunde vom 13.08.2020, 11.09.2020 und 21.09.2020; die OP-Berichte vom 31.08.2020, 17.08.2020, 14.08.2020, 01.08.2020, 27.07.2020, 24.07.2020, 22.07.2020, 20.07.2020 und 19.07.2020; die Reha-Anträge vom 25.08.2020 und 08.09.2020; den Arztbericht vom 07.07.2020 sowie die Schwerstverletztendokumentation vom 26.06.2020.
Sie forderte darüber hinaus das Beratungsprotokoll, die TISS/SAPS-Dokumentation, die Intensivkurve, Transfusionsprotokolle, die Fieberkurve (Normalstation) sowie ärztliche und pflegerische Dokumentation. Auch wenn konkrete Unterlagen abgefordert wurden, dürfte dies nahezu die gesamte Patientenakte sein. Die Anforderung zielt auf eine Abrechnungsprüfung ab und diente nicht mehr der Überprüfung, ob die Krankenhausbehandlung des Geschädigten im Hinblick auf das Unfallereignis am 26.06.2020 erfolgte. Das war bereits anhand der vorliegenden Unterlagen beurteilbar. Jedenfalls wurden keine substantiierten Einwendungen unter Berücksichtigung dieser Unterlagen erhoben. Im Schriftsatz der Beklagten vom 07.06.2022, Seite 4 f. wird eine Abrechnungsprüfung auch eingeräumt, in dem u.a. darauf abgestellt wird, dass für die DRG A11A mindestens 96 Behandlungsstunden, mindestens 1656 intensivmedizinische Punkte und bestimmte Prozeduren erforderlich seien.
Auch aus § 294 a SGB V ergibt sich nichts anderes. Dort wird von „erforderlichen Daten“ gesprochen. Dabei muss es sich nicht zwingend um sämtliche Behandlungsunterlagen handeln, sondern nur um solche, die eben erforderlich sind, um zu überprüfen, ob beispielsweise drittverursachte Gesundheitsschäden vorliegen.
Der Hinweis auf das BGH-Urteil vom 23.06.2020, Az. VI ZR 435/19 führt ebenfalls zu keiner anderen Beurteilung. Zwar hat der BGH in seinem Urteil vom 23.06.2020, Az. VI ZR 435/19, unter Rn. 10 (juris) entschieden, dass keine anderen Grundsätze gelten, als wenn die Zeugin ihren Schadensersatz selbst geltend machen würde. Diese Ausführungen beziehen sich jedoch auf den Forderungsübergang gemäß § 6 EFZG. Konkret wurde festgestellt, dass der Arbeitgeber außer der Entgeltfortzahlung auch darzulegen und zu beweisen hat, dass der Zeugin gegen die Beklagte ein Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfallschadens aus § 823 Abs. 1 BGB oder § 7 Abs. 1, § 11 S. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 VVG zusteht. Streitgegenständlich war insbesondere, ob sich die Zeugin bei dem Unfall überhaupt eine entsprechende Verletzung zugezogen hat. Dass sich der Geschädigte im vorliegenden Verfahren schwer verletzt hat, steht jedoch fest. Zur Problematik der Überprüfung einer Krankenhausrechnung in ihrer Gesamtheit, wie sie sonst den Sozialgerichten vorbehalten ist, macht der BGH in dem o.g. Urteil keinerlei Ausführungen.
Insbesondere darf nicht verkannt werden, dass die Klägerin zu 1. gerade nicht nur eine selbst gefertigte Kostenaufstellung vorgelegt, sondern konkrete Abrechnungsunterlagen. Eine Auseinandersetzung mit diesen Unterlagen fand durch die Beklagten jedoch nicht und schon gar nicht in substantiierter Form statt.
Soweit die Beklagte zu 1. die Auffassung vertritt, es fehle an der Fälligkeit, geht dies fehl. Die Erteilung oder das Vorliegen einer Rechnung ist grundsätzlich keine Fälligkeitsvoraussetzung, auch dann nicht, wenn der Schuldner nach der Verkehrssitte einen Anspruch auf eine spezifizierte Abrechnung hat (Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 15.05.2012, Az. 4 U 661/11, Rn. 57, juris). Beim Schadensersatzanspruch, auch bei einem übergegangenen, liegt die Rechnungserteilung als Fälligkeitsvoraussetzung dogmatisch fern (Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 15.05.2012, Az. 4 U 661/11, Rn. 58, juris). Auch die unterbliebene Zusendung der weiteren Dokumentation führt nicht dazu, dass die Fälligkeit nachträglich entfällt.
e) Die Klägerin zu 1. hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 17.494,62 € für gezahlte Hilfsmittel (Prothesen/ Schienen i.H.v. 146,06 €, Toilettenhilfen i.H.v. 48,26 €, Adaptionshilfen i.H.v. 25,24 €, Stomaartikel i.H.v. 233,70 €), Fahrkosten (148,70 €), Kosten für die stationäre Rehabilitationsbehandlung – Frührehabilitation im Zeitraum vom 07.10.2020 bis 25.11.2020 (13.298,11 €), Krankengeld für den Zeitraum vom 27.10.2020 bis 25.11.2020 (2.398,88 €) sowie entgangene Krankenversicherungsbeiträge, Trägeranteile und den Zusatzbeitrag während der Zeit des empfangenen Krankengeldes (588,99 € + 558,25 € + 48,43 € = 1.195,67 €). Hinsichtlich der Hilfsmittel wurden Verordnungen bzw. Hilfsmittelempfehlungen und die jeweilige Rechnung vorgelegt. Auch für die Fahrtkosten liegt eine Verordnung vor nebst Bestätigung des Transporteurs und eine entsprechende Zuordnung zu dem Geschädigten. Für die stationäre Rehabilitationsbehandlung im Zeitraum vom 07.10.2020 bis 25.11.2020 wird die entsprechende Rechnung vorgelegt. Substantiierte Einwendungen werden nicht geltend gemacht.
Die Beklagten führten lediglich allgemein aus, dass die geltend gemachten Aufwendungen i.H.v. 111.644,15 € möglicherweise berechtigt seien, aber auch das anhand der von der Klägerin vorgelegten Unterlagen nicht mit Sicherheit festgestellt werden könne. Ein substantiiertes Bestreiten erfolgte somit nicht, sodass die Tatsachen nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden zu werten sind.
3. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286, 288 Abs. 1, 2 BGB. Die Klägerin hat Anspruch auf Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag i.H.v. 204.073,10 € für den Zeitraum vom 24.04.2021 bis 24.05.2021 sowie aus 221.567,72 € seit dem 25.05.2021.
Die Klägerin zu 1. hat der Beklagten zu 2. Schadensersatzrechnungen über die jeweiligen Beträge gestellt, in denen es heißt: „Wir erwarten Ihre Zahlung bis zum ...“.
Somit war zwar auf den Schadensersatzrechnungen ein Zahlungsziel angegeben. Es liegt jedoch kein Fall von § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB vor, der eine Mahnung entbehrlich machen könnte. Eine Mahnung ist nur entbehrlich, wenn für die Leistung durch Gesetz, Rechtsgeschäft oder Urteil eine Zeit nach dem Kalender bestimmt ist. Das Rechtsgeschäft erfordert eine vertragliche Vereinbarung. Eine einseitige Bestimmung durch den Gläubiger genügt hingegen nicht (Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, § 286 Rn. 22). Insofern konnte die einseitige Angabe eines Zahlungszieles von der Klägerin vorliegend eine Mahnung nicht ersetzen.
Verzug ist gemäß § 286 Abs. 3 BGB 30 Tage nach dem jeweiligen Rechnungszugang eingetreten. Die Schadensersatzrechnung der Klägerin zu 1. vom 05.10.2020 über 6.817,25 € ist der Beklagten zu 2. am 06.10.2020 zugegangen, sodass Verzug am 06.11.2020 eingetreten ist. Die Schadensersatzrechnung der Klägerin zu 1. vom 13.11.2020 über 8.808,07 € ist der Beklagten zu 2. am 14.11.2020 zugegangen, sodass Verzug am 15.12.2020 eingetreten ist. Die Schadensersatzrechnung der Klägerin zu 1. vom 27.11.2020 über 188.447,78 € ist der Beklagten zu 2. am 28.11.2020 zugegangen. Ergänzende Unterlagen wurden mit Schreiben vom 28.12.2020 und 01.04.2021 übersandt. Verzug spätestens am 01.04.2021 eingetreten. Die Schadensersatzrechnung der Klägerin zu 1. vom 22.04.2021 über 17.494,62 € ist der Beklagten zu 2. Am 23.04.2021 zugegangen, sodass Verzug am 25.05.2021 eingetreten ist.
III.
Die Feststellungsanträge - Antrag zu 2. und zu 4. - sind zulässig und begründet.
Eine Klage auf Feststellung der Verpflichtung eines Schädigers zum Ersatz künftiger Schäden ist zulässig, wenn die Möglichkeit eines Schadenseintritts besteht. Ein Feststellungsinteresse ist nur zu verneinen, wenn aus der Sicht des Geschädigten bei verständiger Würdigung kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines Schadens zu rechnen (BGH, Urteil vom 20.03.2001, Az. VI ZR 325/99 - VersR 2001, 876 f.; BGH, Urteil vom 16.01.2001, Az. VI ZR 381/99 - VersR 2001, 874 f.).
Bei dem Geschädigten ... sind weitere materielle Schäden nicht auszuschließen. Er wurde bei dem Unfallereignis sehr schwer verletzt, was sich sowohl aus der Vielzahl der erlittenen Verletzungen und der hiermit verbundenen Operationen und der langen Krankenhausbehandlungsnotwendigkeit einschließlich intensivmedizinischer Behandlung ergibt. Insoweit wird Bezug genommen auf den 11-seitigen Arztbrief zur Krankenhausbehandlung vom 25.08.2020 bis zum 07.10.2020 (Bl. 91-101 Bd. I d.A.), gerichtet an den Chefarzt Dr. med. ... des M. Reha-Zentrum B. D.. Aufgrund der Vielzahl der erlittenen Verletzungen könnten weitere Behandlungsmaßnahmen erforderlich werden, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abschließend erkennbar sind. Alle schweren Verletzungen können zu Folgeschäden führen. Der Geschädigte hat insbesondere auch zahlreiche Knochenbrüche erlitten. Diese können zu einer Arthrose führen. Es besteht somit die Möglichkeit, dass der Geschädigte weitere Leistungen der Klägerin zu 1. in Anspruch nimmt, insbesondere medizinische Behandlungen notwendig werden. Dadurch können weitere Kosten anfallen. Insofern besteht auch die Möglichkeit, dass erneut Krankengeldzahlungen zu erbringen sind und der Klägerin zu 1. Beiträge entgehen.
Es ist auch nicht auszuschließen, dass die erlittenen schweren Verletzungen zur Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI führen, sodass auch der Feststellungsantrag der Klägerin zu 2. begründet ist.
IV.
Die Beklagten haben der Klägerin zu 1. auch die entstandenen außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in der beantragten Höhe von 3449,81 € zu erstatten.
Der für die Gebühr (hier die Geschäftsgebühr) maßgebliche Gegenstandswert (§ 13 RVG) bestimmt sich nach der objektiv berechtigten Forderungshöhe. Im Schreiben vom 08.06.2021 (Anlage K 12, Bl. 113 Bd. I der Akte) macht der Klägervertreter einen Betrag von 221.567,72 € geltend, welcher in diesem Verfahren auch zugesprochen wird. Somit sind vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.660,80 € (1,3 Geschäftsgebühr aus Streitwert Stufe bis 230.000 € i.H.v. 3056,30 € + Pauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen i.H.v. 20,00 € = 3076,30 € + 19 % Mwst. i.H.v. 584,50 € = 3660,80 €) entstanden.
Die Klägerin war auch berechtigt einen Rechtsanwalt zu beauftragen, zumal sich die Beklagte zu 1. zu diesem Zeitpunkt bereits in Verzug befand.
Der Zinsanspruch folgt aus §§ 291, 288 BGB.
V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 BGB und berücksichtigt, dass die Zuvielforderung der Klägerin von 10,00 € sowie im Hinblick auf die Zinsen verhältnismäßig geringfügig war und keine Mehrkosten verursacht hat.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.
VI.
Der Streitwert war auf die Stufe bis 440.000,- € festzusetzen (Antrag zu 1.: 221.577,72 €, Antrag zu 2.: 150.000,00 €, Antrag zu 4.: 50.000,00 €).
Mit dem Begriff "Schadensfall" ist bei Teilungsabkommen das versicherte Risiko und nicht ein Gesundheitsschaden gemeint - OLG Bamberg, Urteil vom 21. März 2023 – 5 U 54/22 – (veröffentlicht in Recht+Schaden 2023, S. 426 sowie bei juris und beck-online)
OLG Bamberg, Urteil vom 21. März 2023 – 5 U 54/22 –, juris
(vorgehend LG Bamberg 1. Zivilkammer, 2. Februar 2022, 11 O 160/20 V
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Bamberg vom 02.02.2022, Az. 11 O 160/20 V, abgeändert:
1. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klägerin 9.543,07 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p. a. aus 8.116,62 € seit dem 18.12.2017 und im Übrigen seit 02.07.2020 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte zu 1) verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren Aufwendungen innerhalb des zwischen den Parteien bestehenden Teilungsabkommens mit einer Quote von 55 % zu ersetzen, die der Klägerin aufgrund der Frau ..., entstanden sind und noch entstehen werden.
3. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, der Klägerin 887,03 € vorgerichtliche Anwaltskosten nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 02.07.2020 zu zahlen.
II. Von den Gerichtskosten des Rechtsstreits 1. Instanz tragen die Klägerin 59 %, die Beklagte zu 1) 41 %. Von den außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits 1. Instanz haben zu tragen: von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin die Beklagte zu 1) 41 %; von den außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) die Klägerin 17 %; die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) die Klägerin. Im Übrigen tragen die Parteien die ihnen in der 1. Instanz entstandenen außergerichtlichen Kosten selbst. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte zu 1).
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können jeweils die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweils andere Teil vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
IV. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Gründe
A.
Die Klägerin, eine gesetzliche Krankenkasse, verlangt - gestützt auf das am 30.07/09.08.1984 zwischen ihr und der Beklagten zu 1) abgeschlossene Rahmen-Teilungsabkommen (TA) von der Beklagten zu 1), einem Kfz-Haftpflichtversicherer, 55 % der Aufwendungen, die ihr aus Anlass eines Unfalls der bei ihr Versicherten ... entstanden sind sowie Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Aufwendungen in Höhe von 55 %. Zu dem Verkehrsunfall am 19.11.2016 kam es, weil der Fahrer des bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Fahrzeugs auf das verkehrsbedingt anhaltende Fahrzeug, das von der Versicherten geführt wurde, auffuhr. Die Versicherte hatte das Beklagtenfahrzeug im Rückspiegel näher kommen sehen und sich in Erwartung eines Aufpralls am Lenkrad abgestützt. Sie verspürte unmittelbar nach dem Unfall keine Beschwerden und begab sich nicht in ärztliche Behandlung. 2 Tage später traten Schmerzen im Bereich des rechten Armes bzw. der rechten Hand auf. Die Versicherte begab sich am 22.11.2016 erstmals in ärztliche Behandlung. Bei einer Untersuchung am 29.11.2016 wurde ein posttraumatischer Abriss des Tiefenblatts des triangulären fibrocartilaginären Komplexes diagnostiziert. Die Aufwendungen der Klägerin für Krankenhausaufenthalte, ärztliche Behandlungen, Therapien, Hilfsmittel, Krankengeld und Lohnersatzleistungen betragen bisher 17.366,43 €. Die Beklagte zu 1) lehnt den Ausgleich ab, weil der nach § 1a Abs. 3 TA erforderliche Kausalzusammenhang zwischen der diagnostizierten Verletzung und dem Unfall nicht vorliege. Es habe sich bei dem Unfall um einen Bagatellunfall gehandelt, bei dem nur äußerst geringe Kräfte auf den Körper der Versicherten eingewirkt hätten. Beweispflichtig sei für die Kausalität nach dem Teilungsabkommen die Klägerin.
Die maßgeblichen Regelungen des Teilungsabkommens (Anlage zum Schriftsatz des Klägervertreters vom 06.08.2020) lauten wie folgt:
„§ 1a
für Schadenfälle der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung
(1) Erhebt eine diesem Abkommen beigetretene Betriebskrankenkasse („K“) Schadensersatzansprüche nach § 116 SGB X gegen Kraftfahrzeughalter und -führer, die aus dem Schadenfall bei der „H“ Versicherungsschutz genießen, so erstattet die „H“ der „K“ ohne Prüfung der Haftungsfrage namens der haftpflichtversicherten Personen im Rahmen des bestehenden Haftpflichtversicherungsvertrages und nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen 55 % ihrer anlässlich des Schadensfalls aufgrund Gesetzes erwachsenen Aufwendungen.
(2) Eigenes Verschulden des Geschädigten oder das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses (§ 7 Abs. 2 StVG) schließt die Erstattungspflicht der „H“ nicht aus.
(3) Voraussetzung für die abkommensgemäße Beteiligung ist jedoch das Bestehen eines adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen dem Gebrauch des Kraftfahrzeuges und dem Eintritt des Schadenfalles. (...)
§ 2
Die Aufwendungen der "K" unterliegen der Erstattung nach §§ 1a und 1b nur insoweit und solange, als sie sich mit dem sachlich und zeitlich kongruenten Schaden des Verletzten decken (Übergang nach § 116 SGB X).
§ 3
(1) Das Abkommen findet Anwendung, wenn und soweit die ”H" aus dem den Regreßansprüchen zugrundeliegenden Schadenfall Versicherungsschutz zu gewähren hat. In Fällen der Leistungsfreiheit nach § 7 V AKB ist das Teilungsabkommen anzuwenden, soweit die Aufwendungen der ”K" den jeweiligen Leistungsfreibetrag überschreiten.
(2) Unterlassene, verspätete oder nicht ordnungsgemäße Anzeige des Schadenfalles durch die haftpflichtversicherte Person bei der „H“ oder durch den Krankenversicherten bei der "K" schließt die Anwendung des Abkommens nicht aus.
(3) § 156 Abs. 3 VVG wird durch das Abkommen nicht berührt. (...)
§ 6
(...)
(3) Alle anderen durch den Schadenfall verursachten Aufwendungen der "K” wie z. B. für:
(...) werden in tatsächlicher Höhe berücksichtigt, wenn und soweit die zugrundeliegenden Regreßansprüche nach § 2 auf die ”K” übergegangen sind.“
Die Klägerin hat nach Rücknahme ihrer gegen den Beklagten zu 2) als Fahrer des bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Fahrzeugs und nach Teilrücknahme ihrer gegen die Beklagte zu 1) gerichteten Klage die im Ersturteil wiedergegebenen Anträge gestellt. Es wird auf den Tatbestand des Urteils des Landgerichts Bamberg vom 02.02.2022 verwiesen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach dem Teilungsabkommen die Klägerin den erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der diagnostizierten Verletzung und dem Unfall zu beweisen habe. Diesen Beweis habe sie nicht angetreten, sie sei beweisfällig geblieben. Es wird auf die Urteilsgründe Bezug genommen. Mit der Berufung verfolgt die Klägerin die erstinstanzlich zuletzt gestellten Klageanträge weiter. Sie wendet sich gegen die vom Landgericht vorgenommene Auslegung des Teilungsabkommens. Das Landgericht habe das Trennungsprinzip zwischen der Deckungspflicht und der Haftpflichtfrage nicht hinreichend beachtet und deshalb Sinn und Zweck des Teilungsabkommens nicht zutreffend erfasst. Dieser liege in der Kosten- und Zeitersparnis in Massenverfahren durch den Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage. Auch dem streitgegenständlichen Teilungsabkommen liege ein umfassender Haftungsprüfungsverzicht zugrunde. Hierzu gehöre auch die haftungsausfüllende Kausalität. Müsste in Massengeschäften das Vorliegen der haftungsausfüllenden Kausalität jeweils kosten- und zeitintensiv geprüft werden, wäre das Teilungsabkommen sinnlos. Das Teilungsabkommen sei im Streitfall bereits dann anwendbar, wenn der Schadenfall seiner Art nach zum versicherten Wagnis gehöre und der Versicherer im konkreten Fall Versicherungsschutz zu gewähren habe. Beide Voraussetzungen seien erfüllt. Damit bestünde ein Anspruch der Klägerin auf 55 % der aufgewendeten Kosten. Die Auslegung des Landgerichts, der Schadenfall im Sinne von § 1a Abs. 3 TA betreffe das Vorliegen einer Körperverletzung, sei fehlerhaft. Hiermit hätten die Parteien vielmehr das versicherte Risiko gemeint. Es wird auf die Berufungsbegründung vom 03.05.2022 (Bl. 189 ff. d. A.) verwiesen.
Die Klägerin beantragt:
1. Das am 02.02.2022 verkündete Urteil des Landgerichts Bamberg, Az. 11 O 160/20 V wird abgeändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 9.543,07 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. aus 8.116,62 € seit dem 18.12.2017 und im Übrigen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte darüber hinaus verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren Aufwendungen innerhalb des zwischen den Parteien bestehenden Teilungsabkommens mit einer Quote von 55 % zu ersetzen, die der Klägerin aufgrund ..., entstanden sind und noch entstehen werden.
4. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 887,03 € vorgerichtliche Anwaltskosten ihres jetzigen Prozessbevollmächtigten nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Berufung.
Sie verteidigt das Ersturteil. Das Teilungsabkommen sei als zwischen Versicherern geschlossener Vertrag auslegungsbedürftig. Die Ausführungen des Bundesgerichtshofs im Urteil vom 12.06.2007 - VI ZR 110/06 zur Frage, was unter dem Begriff „Schadenfall“ zu verstehen sei, seien auf den Streitfall nicht zu übertragen, weil Gegenstand der dortigen Auslegung ein anderes Teilungsabkommen gewesen sei. Die von der Klägerin gewünschte Auslegung des Teilungsabkommens sei nicht interessengerecht. Sie laufe auf Zahlungsverpflichtungen der Beklagten zu 1) auf „Zuruf“ hinaus. Diese könne - abgesehen von Groteskfällen - auch offensichtlich unbegründete Forderungen nicht abwehren. Für die Auffassung der Beklagten zu 1), wonach die Klägerin gemäß § 1a Abs. 3 TA eine durch den Unfall verursachte Körperverletzung nachzuweisen habe, spreche die systematische Ausgestaltung des Teilungsabkommens. Während in § 2 ausgeführt werde, dass der Erstattung nach den §§ 1a und 1b TA Aufwendungen der Krankenkasse nur insoweit unterliegen, als sie sich mit dem sachlichen und zeitlichen kongruenten Schaden des Verletzten decken, enthalte § 6 Abs. 3 TA die Regelung, dass die dort genannten Aufwendungen der Krankenkasse nur dann berücksichtigt würden, wenn und soweit die zugrunde liegenden Regressansprüche nach § 2 TA auf die Krankenkasse übergegangen seien. Die Formulierung zeige deutlich, dass die Parteien davon ausgegangen seien, dass eine Kausalität nachzuweisen sei. Anders lasse sich die Verwendung des Indikativs nicht erklären. Hätten die Parteien in § 1a Abs. 1 TA einen umfassenden Haftungsprüfungsverzicht regeln wollen, wären auch die Regelungen in § 1a Abs. 3 TA zur adäquaten Kausalität und § 1a Abs. 2 TA zur Unabwendbarkeit und zum Verschulden des Geschädigten überflüssig. Gegen einen umfassenden Haftungsprüfungsverzicht spreche darüber hinaus die Regelung in § 3 TA, wonach das Teilungsabkommen Anwendung finde, solange und soweit Versicherungsschutz besteht. Diese Regelung wäre überflüssig, wenn die Haftung der Beklagten zu 1) keine Rolle spielen würde. Es wird auf die Berufungserwiderung vom 22.07.2022 (Bl. 218 ff. d. A.) und die weiteren im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze verwiesen.
B.
Die zulässige Berufung der Klägerin hat Erfolg. Die Klägerin hat gegen die Beklagte zu 1) einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 9.543,07 € nebst vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 887,03 € jeweils nebst Zinsen sowie Feststellung aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Teilungsabkommen.
I.
Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist das Teilungsabkommen nicht dahingehend auszulegen, dass der Eintritt des adäquat kausalen Schadensfalls den Nachweis einer unfallbedingten Verletzung der Versicherten erfordert. Das Teilungsabkommen ist dahingehend auszulegen, dass ein Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage vereinbart wurde, von dem auch der Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen Unfallereignis und Verletzung umfasst ist.
Das hier vorliegende Teilungsabkommen ist ein Vertrag, der der Auslegung dahingehend unterliegt, dass vom Wortlaut ausgehend der Sinngehalt der Regelungen unter Berücksichtigung der Interessenlage der Vertragspartner im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ermittelt wird (BGH, Urt. v. 12.06.2007 - VI ZR 110/06, Rn. 10).
Der Senat geht bei seiner Auslegung davon aus, dass die Wortwahl im Teilungsabkommen dem zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses üblichen Sprachgebrauch im Rechtsverkehr zwischen Versicherern entspricht. Danach ist der Begriff "Schadenfall" in Teilungsabkommen im Zusammenhang mit dem versicherten Wagnis zu verstehen (vgl. BGH, Urt. v. 12. Juni 2007 aaO, Rn. 11). Bei Kraftfahrzeugunfällen umfasst das versicherte Wagnis nach § 10 AKB die Befriedigung begründeter und die Abwehr unbegründeter Schadensersatzansprüche, die aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen Inhalts gegen den Versicherungsnehmer oder gegen mitversicherte Personen erhoben werden, wenn durch den Gebrauch des Fahrzeugs Personen-, Sach- oder Vermögensschäden herbeigeführt werden. Dementsprechend ist im Streitfall nach § 1a Abs. 3 TA Voraussetzung für die Anwendung des Teilungsabkommens der adäquate Kausalzusammenhang zwischen "dem Schadenfall und dem Gebrauch eines Kraftfahrzeugs". Hierdurch soll gewährleistet sein, dass der Haftpflichtversicherer nur in Fällen zu zahlen hat, in denen er zur Deckung verpflichtet sein kann. Andererseits kann die Krankenkasse Ausgleichsansprüche geltend machen, sofern es im Zusammenhang mit dem Gebrauch eines Kraftfahrzeugs zu einem Personenschaden des Krankenversicherten gekommen ist, für den die Krankenkasse Kosten aufgewendet hat (vgl. BGH, Urt. v. 12. Juni 2007 aaO, Rn. 11). Der Begriff des Schadenfalles bezieht sich somit ausschließlich auf das Schadensereignis als solches und ist nicht gleichzusetzen mit den unfallbedingt hervorgerufenen Folgen und Auswirkungen, die das Unfallgeschehen nach sich zieht.
Gegen das Verständnis des Landgerichts und der Berufungserwiderung spricht, dass die Parteien den Begriff „Schadenfall“ im Teilungsabkommen an verschiedenen Stellen verwenden (vgl. z. B. § 1a in der Überschrift, § 1a Abs. 1, § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 2, § 6 Abs. 3 und § 9 Abs. 1). Anhaltspunkte dafür, dass die Vertragsparteien unter dem Begriff „Schadenfall“ dabei unterschiedliches verstanden hätten, sind nicht ersichtlich und werden auch nicht behauptet. An diesen Stellen wird der Begriff aber unzweifelhaft im Sinne des versicherten Wagnisses verwendet und nicht im Sinne von Körperverletzung oder dem Eintritt eines Gesundheitsschadens. Diese Begriffe würden zahlreichen der oben genannten Regelungen keinen Sinn verleihen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten zu 1) enthalten § 3 Abs. 1 und § 6 Abs. 3 TA keine Einschränkung des Verzichts auf die Prüfung der Haftungsfrage. Nach § 3 Abs. 1 TA, auf den § 6 Abs. 3 TA Bezug nimmt, unterliegen die Aufwendungen der Klägerin der Erstattung nach §§ 1a und 1b nur insoweit und so lange, als sie sich mit dem sachlich und zeitlich kongruenten Schaden des Verletzten decken (Übergang nach §§ 116 SGB X). Dies ist so zu verstehen, dass damit der Einwand der mangelnden zivilrechtlichen Übergangsfähigkeit behandelt wird. Dies betrifft weder die Haftungsfrage noch die Deckungsfrage, sondern die Frage, ob der Sozialversicherungsträger gemäß § 116 SGB X zur Geltendmachung des Anspruchs des Geschädigten berechtigt ist. Zu prüfen ist deshalb nur, ob der Anspruch, wenn er bestünde, gemäß § 116 SGB X auf den Sozialversicherungsträger übergegangen wäre (BGH, Beschl. v. 20.09.2011 - VI ZR 337/10).
Auch der systematische Aufbau des Teilungsabkommens spricht nicht für die Auslegung der Beklagten zu 1). Die Regelung in § 2 TA, wonach eigenes Verschulden des Geschädigten oder die Unabwendbarkeit im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG die Erstattungspflicht der Beklagten zu 1) nicht ausschließt, ist im Kontext mit § 1a Abs. 3 TA zu sehen. Die Parteien haben mit der dortigen Regelung und der Begrenzung auf adäquat kausale Schadenfälle offensichtlich die „Groteskfälle“ von der Erstattungspflicht ausgenommen. Dabei handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs um Fälle, die schon aufgrund des unstreitigen Sachverhalts unzweifelhaft und offensichtlich eine Schadensersatzpflicht des Versicherungsnehmers nicht hervorrufen können und daher gemäß § 242 BGB von der Erstattungspflicht ausgenommen sind (BGH NJW 1956, 1237). Die Gegenausnahme ist in § 2 TA enthalten und dient ersichtlich nur der Klarstellung. Der Bundesgerichtshof hat bereits mit Urteil vom 23.09.1963 - II ZR 118/60 entschieden, dass durch den im dortigen Teilungsabkommen vereinbarten Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage nach dem Willen der Vertragsschließenden auch ein auf § 7 Abs. 2 StVG gestützter Einwand des Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherers ausgeschlossen sein soll. Dies haben die Parteien im Streitfall klargestellt. Weiter haben sie in § 2 TA klargestellt, dass auch eigenes Verschulden des Geschädigten die Erstattungspflicht der Beklagten zu 1) nicht ausschließt.
Entgegen der Auffassung der Beklagten zu 1) sprechen gegen den in § 1a Abs. 1 TA geregelten umfassenden Verzicht auf die Prüfung der Haftungsfrage auch nicht die Regelungen in § 3 TA. Diese sind auch bei Annahme eines umfassenden Verzichts auf die Prüfung der Haftungsfrage nicht überflüssig. Vielmehr werden an dieser Stelle die weiteren Voraussetzungen der Deckungspflicht, insbesondere die Leistungsfreiheit nach § 7 Abs. 5 AKB und die Auswirkungen von Obliegenheitsverletzungen behandelt.
Die Auslegung des Teilungsabkommens ergibt somit, dass dessen Anwendungsbereich bereits dann eröffnet ist, wenn der Anspruch, sein Bestehen unterstellt, unter das versicherte Wagnis fallen würde (vgl. auch BGH, Urt. v. 01.10.2008 - IV ZR 285/06). Ob der Anspruch begründet ist, also der Geschädigte unfallbedingte Verletzungen davongetragen hat, ist dagegen unerheblich, weil es dabei um die Haftungsfrage geht, auf deren Prüfung die Parteien verzichtet haben. Der in § 1a Abs. 3 TA geregelte adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Schadenfall und dem versicherten Haftpflichtbereich betrifft allein die Deckungspflicht.
Der ermittelte Sinngehalt des Teilungsabkommens wird auch der Interessenlage der Parteien gerecht. Zur Herbeiführung einer Haftungseinschränkung hätte es den Parteien freigestanden, entsprechend dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Sachverhalt (BGH, Urt. v. 12.06.2007 - VI ZR 110/06) eine Vereinbarung dergestalt in das Teilungsabkommen aufzunehmen, dass die Beklagte zu 1) berechtigt ist, von der Klägerin im Zweifelsfall den Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Schadensfall und dem der Kostenforderung zugrunde liegenden Krankheitsfall zu verlangen. Eine solche Einschränkung enthält das Teilungsabkommen vorliegend indes nicht. Wäre es der Beklagten zu 1) gleichwohl gestattet, sich auf das Fehlen eines Ursachenzusammenhangs zwischen Schadensereignis und körperlicher Beeinträchtigung zu berufen, würde das Abkommen letztlich konterkariert werden, da die Beklagte zu 1) durch die Behauptung, die zu regressierenden Aufwendungen beinhalteten keinen unfallbedingt hervorgerufenen Ersatzanspruch, stets auf die Einholung eines Gutachtens hinwirken und ihre Zahlung von dem Nachweis der Ursächlichkeit abhängig machen könnte. Der Sinn der Vereinbarung, die Kosten einer gerichtlichen oder außergerichtlichen Prüfung der Haftpflicht zu vermeiden, indem allen zwischen den Beteiligten vorzunehmenden Schadensregulierungen eine einheitliche, der Erfahrung nach als Durchschnittswert anzusehende Quote zugrunde gelegt wird, wäre damit infrage gestellt. Eine ohne Prüfung der Haftungsfrage bestehende Einstandspflicht des Haftpflichtversicherers führt auch nicht zu einer massiven Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts, die das Leistungsvermögen der Beklagten zu 1) als Haftpflichtversicherer gefährden könnte. Die Tatsache, dass die Haftungsfrage bei Eingreifen des Teilungsankommens nicht geprüft wird, wirkt sich je nach Fallgestaltung auch zu Gunsten der Beklagten zu 1) aus. Selbst wenn der bei der Beklagten zu 1) Haftpflichtversicherte den Unfall zu 100 % verursacht hätte, hat die Klägerin lediglich die Möglichkeit, 55 % der ihr entstandenen Aufwendungen zu regressieren.
II.
Die Voraussetzungen für die Anwendung des Teilungsabkommens liegen im Streitfall vor. Der in § 1a Abs. 3 TA genannte Zusammenhang ist gegeben. Das bei der Beklagten zu 1) versicherte Fahrzeug fuhr auf das verkehrsbedingt stehen gebliebene Fahrzeug der Versicherten auf. Ein solcher Verkehrsvorgang liegt auch nicht außerhalb der allgemeinen Verkehrserfahrung, sondern ist typisch. Das von der Versicherungsnehmerin gefahrene Fahrzeug war nach der Verkehrsauffassung an diesem Verkehrsvorgang aktuell und unmittelbar, zeit- und ortsnah beteiligt. Für die Anwendung des § 10 AKB sowie des TA kommt es auch nicht darauf an, ob der Fahrer des haftpflichtversicherten Wagens sich verkehrsgerecht verhalten hat.
Auch die weiteren Voraussetzungen der Deckungspflicht nach § 3 TA liegen vor.
III.
Die Beklagte zu 1) hat im Rahmen des § 1a TA 55 % der erbrachten Aufwendungen zu tragen. Dies sind unstreitig 9.551,54 €. Bei den geltend gemachten, in der Regresskostenaufstellung der Klägerin gelisteten Kosten handelt es sich auch um übergangsfähige Kosten im Sinne des § 116 Abs. 1 SGB X.
Die Klägerin hat auch einen Anspruch auf Feststellung der weitergehenden Ersatzpflicht. Dieser Anspruch besteht nicht unbegrenzt und unbedingt, sondern - wie beantragt - nur im vertraglich vorgesehenen Umfang.
IV.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte zu 1) auch einen Anspruch auf die zugesprochenen Zinsen und die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gemäß §§ 286 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 3, 288 Abs. 1 BGB. Die Beklagte zu 1) hat durch ihr Schreiben vom 13.12.2017 die Begleichung der zum damaligen Zeitpunkt geltend gemachten Kosten in Höhe von 8.116,62 und eine Einstandspflicht abgelehnt. Sie befindet sich daher spätestens seit Zugang dieses Schreibens bei der Klägerin in Höhe von 8.116,62 € in Verzug.
Im Übrigen stehen der Klägerin ab 02.07.2020 Prozesszinsen gem. §§ 291 Abs. 1, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB zu.
Aufgrund der Erfüllungsverweigerung konnte die Klägerin zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung auch ihre Prozessbevollmächtigten bereits vorgerichtlich beauftragen. Hinsichtlich der zutreffenden Berechnung der Anwaltskosten nach dem RVG wird auf die Klageschrift (Bl. 34 d. A.) verwiesen.
Der Anspruch auf die Prozesszinsen auf die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ergibt sich aus §§ 291 Abs. 1, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
C.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 S. 1, § 269 Abs. 3 S. 2 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.
Prelinger - Aktuelle Probleme in der Regulierungspraxis zwischen Krankenkassen und Haftpflichtversicherungen im Regress nach § 116 SGB X, in: Versicherungsrecht 2022, S. 1337 - 1347
Der sofortige Forderungsübergang dem Grunde nach dient als Ausgleich für die von ihr erbrachten Sozialleistungen. Gesetzlich Krankenversicherte erhalten Leistungen der Krankenkasse, insbesondere Heilbehandlungsleistungen als Sach- und Dienstleistungen (Sachleistungsprinzip), wobei die Kassen Leistungserbringer beauftragen, die den gesetzlich Versicherten Behandlungsleistungen zur Verfügung zu stellen. Infolgedessen bemisst sich der Schaden der Kasse nach dem Wert der Sachleistungen, der sich nach dem Geldbetrag bemisst, den die Kasse an ihre jeweiligen Leistungserbringer entrichtete.
Gesundheitsdaten, insbesondere Arztberichte dürfen nur verwendet werden, wenn dies erforderlich ist.
Für den Regress stellt § 284 Abs. 1 Nr. 11 SGB V i.V.m. §§ 295 ff. SGB V die nötige Rechtsgrundlage für die Verwendung der erhaltenen Abrechnungsdaten der Leistungserbringer dar. Weitere Abrechnungsdaten existieren nicht. Bei den EDV-Belegen handelt es sich um öffentliche Dateien gemäß §§ 416a, 418 ZPO, da diese aus dem sozialrechtlichen Gesetzessystem entstammen und ausdrücklich deren Verwendung für den Regress vorgesehen ist und daher voller Beweis darüber erbracht wird, dass es sich um die der Kasse übersandten (fremden) Abrechnungsdaten des ausstellenden Leistungserbringers handelt.
Die Daten gemäß § 301 SGB V erhalten hierbei die für die Prüfung der Kodierung und damit der Höhe des Leistungsbetrags wesentlichen Daten und ermöglichen somit eine rechnerische Überprüfung der Krankenhausabrechnungen. Die Schadenshöhe wird daher durch eine tabellarische Aufstellung der Schadenspositionen unter Beifügung entsprechender EDV-Ausdrucke der nach §§ 295, 300 ff. SGB V übermittelten Rechnungsdaten der Leistungserbringer nachgewiesen. Dem Schädiger steht in Hinblick auf §§ 275, 275c SGB V, § 17c KHG grundsätzlich kein Prüfungsrecht bezüglich der Krankenhausabrechnungen zu.
Autor
Wolfdietrich Prelinger, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Verkehrsrecht, Fachanwalt für Versicherungsrecht
Erscheinungsdatum
30.11.2022
Fundstelle
Versicherungsrecht 2022, 1337 ff.
Zitiervorschlag
Prelinger, VersR 2022, 1337 ff.
Bei Teilungsabkommen sind die Behandlungskosten nur glaubhaft zu machen - LG München I, Urteil vom 15.09.2022, Az. 3 O 2000/22 (veröffentlicht bei juris und beck-online)
Tenor
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 6.750,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.06.2021 zu zahlen.
- Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 289,17 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23.03.2022 zu zahlen.
- Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
- Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
- Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages.
Beschluss: Der Streitwert des Verfahrens wird auf 6.750,00 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Parteien streiten um vertragliche Ansprüche aus einem zwischen den Parteien abgeschlossenen Teilungsabkommen. Die Klägerin ist die Krankenversicherung der Geschädigten ... Die Beklagte ist die Haftpflichtversicherung der Stiftung ... Am 17.10.1984/26.10.1984 schlossen die Klägerin (bezeichnet als "K") und die Beklagte (bezeichnet als "H") ein Teilungsabkommen in dem das Folgende vereinbart wurde:
"§ 1
Abs. 1. Kann die "K" gegen eine bei der "H" haftpflichtversicherte natürliche oder juristische Person gemäß § 116 SGB X Ersatzansprüche aus Schadensfällen ihrer Versicherten oder deren mitversicherten Familienangehörigen (Geschädigte) geltend machen, so verzichtet die "H" auf die Prüfung der Haftungsfrage und ersetzt der "K" (...)
b) in übrigen Fällen der Allgemeinen Haftpflichtversicherung 45 %
der von dieser nach Gesetz und Satzung zu erbringenden Leistungen im Rahmen des § 3 dieses Abkommens.
Abs. 2. Voraussetzung dafür ist, dass dem oder den Geschädigten in der gleichen Zeit ein gleichartiger Schadensersatzanspruch entstanden und auf die "K" übergegangen sein könnte.
Abs. 3. Voraussetzung ist ferner, dass nach dem feststehenden Tatbestand objektiv die Möglichkeit einer Inanspruchnahme der Haftpflichtversicherten gegeben ist. Erforderlich ist also ein Kausalzusammenhang zwischen dem versicherten Wagnis und dem Eintritt des Schadensereignisses. (...) Die "H" verzichtet auf den Einwand des unabwendbaren Ereignisses. Das Abkommen gilt auch, wenn der Schaden durch eigenes Verschulden, jedoch nicht durch Vorsatz des Geschädigten entstanden ist.
Abs. 4. Das Abkommen erstreckt sich nur auf solche Fälle, für die die "H" Versicherungsschutz zu gewähren hat (...).
§ 2 Abs. 4. Die "K" hat auf Verlangen der "H" die Ursächlichkeit zwischen den geltend gemachten Kosten und dem Schadensfall glaubhaft zu machen.
§ 6: Das Abkommen findet Anwendung, soweit in einem Schadensfall der Gesamtbetrag, den die "K nach § 3 berechnen kann, DM 30.000,-- für jeden Geschädigten nicht überschreitet (Limit). Übersteigt der Gesamtbetrag DM 30.000,-- so ist bis zu dieser Summe abkommensgemäß zu verfahren."
§ 9: Gerichtsstand für Rechtsstreitigkeiten aus diesem Abkommen ist M..
Die Geschädigte hatte aufgrund Heimvertrages mit der Versicherungsnehmerin der Beklagten, ein Zimmer im Gast- und Krankenhaus H. ..., angemietet. Am Morgen des 12.11.2020 knickte die Geschädigte in ihrem Zimmer um und fiel zu Boden. Die Geschädigte wurde in der Zeit vom 12.11.2020 bis 17.12.2020 wegen eines Oberschenkelbruchs im Evangelischen A.-S.-Krankenhaus in H. behandelt. Das Krankenhaus stellte der Klägerin dafür einen Betrag in Höhe von 15.843,96 € in Rechnung.
Die Klägerin verlangte von der Beklagten vorgerichtlich Erstattung der Behandlungskosten in Höhe von 6.750,00 € aufgrund des Teilungsabkommens (45 % aus 15.000,-- €). Die Klägerin ist der Meinung, dass die Beklagte gegenüber der Klägerin aufgrund des Teilungsabkommens auf die Prüfung der Frage, ob ihre Versicherungsnehmerin, die Stiftung Gast- und Krankenhaus H., für den Unfall der Geschädigten ... haftet, verzichtet habe. Es sei sowohl auf die Prüfung der haftungsbegründenden-, als auch haftungsausfüllenden Kausalität verzichtet worden. Die Höhe des Schadens habe die Klägerin der Beklagten durch Vorlage des der Klägerin im Wege der elektronischen Datenübertragung gemäß §§ 295, 300 ff SGB V vom Krankenhaus übermittelten Datensatzes dargelegt und nachgewiesen.
Die Klägerin beantragt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 6.750,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p. a. seit dem 22.06.2021 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 554,54 € vorgerichtliche Anwaltskosten ihres jetzigen Prozessbevollmächtigten nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt Klageabweisung.
Die Beklagte ist der Meinung, dass der Klägerin kein Anspruch aus dem Teilungsabkommen zustünde, da ein bei der Beklagten versichertes Schadensereignis nicht stattgefunden habe. Zwar bestreitet die Beklagte nicht, dass die Geschädigte umknickte und zu Boden fiel, sie ist jedoch der Meinung, dass ein haftungsbegründender Sturz nicht stattgefunden habe. Der Anwendungsbereich des Teilungsabkommens sei nicht eröffnet, zumal weder eine Verkehrssicherungspflichtverletzung - wie etwa aufgrund eines rutschigen Fußbodens - oder die Verwirklichung eines sog. "voll beherrschbaren Risikos" der Versicherungsnehmerin der Beklagten im Raum stünde. Frühere Stürze der Geschädigten seien nicht bekannt gewesen, weshalb auch keine gesteigerten Überwachungspflichten bestanden hätten. Ein Sturz habe nicht stattgefunden. Selbst wenn ein Sturz stattgefunden hätte, wäre nach der gefestigten Rechtsprechung zum voll beherrschbaren Risiko eine Haftung der Versicherungsnehmerin der Beklagten nicht gegeben, da eine Dauerüberwachung von Patienten weder geschuldet sei, noch im üblichen Krankenhaus-, Pflegeheimalltag gewährleistet werden könne. Ein versichertes Schadensereignis läge nicht vor, da nicht ersichtlich sei, wie ein von der Patientin selbst herbeigeführtes "Umknicken" zu einer Haftung der Versicherungsnehmer der Beklagten führen könne. Überdies sei nicht ausgeschlossen, dass die Geschädigte, welche unter einer schweren Osteoporose gelitten habe, eine pathologisch dislozierte Fraktur erlitten haben könnte, die bereits nachts aufgetreten sei, sich dann aber erst durch die Bewegung am Morgen verschoben habe und zum Umknicken geführt habe. Des Weiteren wendet die Beklagte ein, die Klägerin habe nicht substantiiert dargelegt, welche genauen Behandlungen und damit einhergehenden Kosten durch den vermeintlichen "Sturz" erforderlich geworden sein sollen. Die Beklagte bestreitet, dass es sich bei den behaupteten Behandlungskosten allein um die Kosten handeln solle, welche bei der Versicherten im Rahmen der frakturbedingten Behandlung hätten aufgewendet werden müssen. Alleine anhand der vorgelegten Kostenübersicht könne nicht nachvollzogen werden, welche Maßnahme aufgrund des behaupteten Sturzes ergriffen worden seien. Darüber hinaus seien nur notwendige, durch das Ereignis bedingte Heilbehandlungs- und Rehabilitationskosten erstattungsfähig, hingegen nicht die Kosten für eine anschließende multimodale Komplexbehandlung zur "Generalüberholung" einer multimorbiden Patientin. Rechtsanwaltsgebühren seien nur in Höhe einer 1,3 Gebühr erstattungsfähig.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf sämtliche zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze, samt Anlagen sowie die Sitzungsniederschrift vom 25.08.2022 verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klägerin hat gegen die Beklagte aus §§ 1, 3, 6 des Teilungsabkommens (im Folgenden TA) vom 17.10.1984/26.10.1984 Anspruch auf Ersatz der für die Heilbehandlung der verletzten Geschädigten aufgewendeten Kosten in Höhe von 6.750,00 €.
Nach dem Teilungsabkommen besteht ein Anspruch der Klägerin gegenüber der Beklagten, wenn der Schadensfall seiner Art nach zum versicherten Wagnis gehört, § 1 Nr. 3 TA und der Versicherer die Beklagte im Einzelfall Versicherungsschutz zu gewähren hat, § 1 Nr. 4 TA.
Das Gericht hat seiner Entscheidung die Rechtsprechung des BGH zu Teilungsabkommen in BGH IV ZR 285/06, BGH IV ZR 157/07, BGH IV ZR 133/07, BGH IV ZR 114/07 zugrunde gelegt.
Im Einzelnen:
1. Nach dem Teilungsabkommen ist nicht die Frage zu entscheiden, ob der Versicherungsnehmer der Beklagten der Geschädigten gegenüber haftet. Nach § 1 Nr. 1 TA wird auf die Prüfung der Haftungsfrage mit Ausnahme der nicht einschlägigen Ausnahmefälle, § 1 Nr. 3 3. Satz TA und § 1 Nr. 5 TA, die von der Beklagten nicht geltend gemacht werden, verzichtet. Die Frage nach der haftungsbegründenden und haftungsausfüllenden Kausalität ist also zwischen den Parteien nicht mehr streitig auszutragen. Dieser Verzicht umfasst auch den objektiven Tatbestand einer Pflichtverletzung und das Verschulden. Selbst ein im Haftpflichtprozess ergangenes klageabweisendes Urteil zwischen der Geschädigten und der Stiftung wäre ohne Bedeutung.
Damit kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht mehr darauf an, ob die Stiftung eine Verkehrssicherungspflichtverletzung begangen habe, weil gegenüber der Geschädigten eine gesteigerte Überwachungspflicht im Hinblick auf früher bekannte Stürze bestanden hätten und ob gegenüber der Geschädigten eine Dauerüberwachung von Seiten der Stiftung geschuldet gewesen sei, die nach Auffassung der Beklagten im üblichen Krankenhaus- und Pflegeheimalltag nicht gewährleistet werden könne.
2. Eine Deckungspflicht der Beklagten gegenüber der Stiftung besteht. Voraussetzung ist, dass der Schadensfall seiner Art nach zum versicherten Wagnis gehört, § 1 Nr. 3 2. Satz TA und der Versicherer im Einzelfall Versicherungsschutz zu gewähren hat, § 1 Nr. 4 TA.
a) Nach § 1 Nr. 3 TA muss nach dem feststehenden Tatbestand objektiv die Möglichkeit einer Inanspruchnahme der Haftpflichtversicherten, also der Stiftung, gegeben sein. Erforderlich ist demnach ein Kausalzusammenhang zwischen dem versicherten Wagnis und dem Eintritt des Schadensereignisses. Ein solcher Zusammenhang liegt vor, wenn das Schadensereignis seiner Art nach in den Gefahrenbereich fällt, für den der Haftpflichtversicherer Versicherungsschutz zu gewähren hat. Versicherungsschutz hat der Haftpflichtversicherer nicht zur Befriedung begründeter, sondern auch zur Abwehrung berechtigter Schadensersatzansprüche zu gewähren, die gegen den Versicherungsnehmer erhoben werden. Deshalb ist der Anwendungsbereich des Teilungsabkommens bereits dann eröffnet, wenn der Anspruch sein Bestehen unterstellt, unter das versicherte Wagnis fallen würde. Ob der Anspruch begründet ist, dem Versicherungsnehmer der Beklagten eine objektive Pflichtverletzung anzulasten ist, ist dagegen unerheblich, weil in dem Teilungsabkommen auf die Prüfung der Haftungsfrage zwischen den Parteien verzichtet wurde und da jede andere Auslegung dem Wortlaut und dem Zweck des Teilungsabkommens widersprechen würde.
Dabei liegt bei einem Sturz nach der Rechtsprechung des BGH eine adäquater Kausalzusammenhang zwischen dem Schadenfall und dem versicherten Haftpflichtbereich auf der Hand. Verletzt sich ein pflegebedürftiger Bewohner bei einem Sturz im Pflegeheim und nimmt er oder ein gesetzlicher Krankenversicherer den Betreiber des Pflegeheims auf Schadensersatz in Anspruch, handelt es sich um einen typischen, vom Versicherungsschutz umfassten Vorgang.
Die Geschädigte ist in ihrem Heimzimmer gestürzt. Zwar stellt die Beklagte einen Sturz in Abrede, hat jedoch unstreitig gestellt, dass die Geschädigte umgeknickt und zu Boden gefallen ist. Es erschließt sich dem Gericht nicht, warum es sich bei diesem Vorgang - umknicken und zu Boden fallen - nicht um einen Sturz handeln soll.
b) Darüber hinaus liegen auch die weiteren Voraussetzungen der Deckungspflicht gemäß § 1 Nr. 4 Teilungsabkommen vor. Einwendungen, dass keine Deckungspflicht für den Schadensfall besteht, zum Beispiel nach § 2 Nr. 2 TA (nicht rechtzeitige Anzeige des Schadensfalles), werden seitens der Beklagten nicht geltend gemacht.
3. Dabei umfasst der Verzicht auf die Klärung der Haftungsfrage nicht nur die haftungsbegründende Kausalität, sondern auch die haftungsausfüllende Kausalität. Allerdings haben die Parteien in § 2 Nr. 4 TA vereinbart, dass die Klägerin auf Verlangen der Beklagten die Ursächlichkeit zwischen den geltend gemachten Kosten und dem Schadenfall glaubhaft zu machen hat. Die Beklagte bestreitet, dass die behaupteten Behandlungskosten alleine Kosten sind, welche bei der Versicherten im Rahmen der frakturbedingten Behandlung hätten aufgewendet werden müssen. Die Klägerin habe schon nicht substantiiert dargelegt, welche genauen Behandlungen und damit einhergehenden Kosten durch den vermeintlichen Sturz erforderlich gewesen sein sollen. Dieses Bestreiten kann dahingehend ausgelegt werden, dass die Beklagte eine Glaubhaftmachung gem. § 2 Nr. 4 TA begehrt.
Die Parteien haben dabei in § 2 Nr. 4 TA nicht formuliert, die Klägerin müsse der Beklagten auf Verlangen die Ursächlichkeit zwischen den geltend gemachten Kosten und dem Schadenfall nachweisen, sondern glaubhaft machen. Da das Teilungsabkommen der Vereinfachung der Schadensabwicklung zwischen den Parteien dienen soll, kann entgegen des Wortlauts nicht angenommen werden, die Parteien hätten vereinbaren wollen, dass es ins Belieben der Beklagten gestellt wird, ob sie den vereinbarten Verzicht auf den Nachweis der haftungsausfüllenden Kausalität gegen sich gelten lässt oder nicht und nach Gutdünken einen Nachweis der haftungsausfüllenden Kausalität von der Klägerin verlangen kann, auch wenn keine Zweifelsfälle oder Anhaltspunkte für Abrechnungen von Behandlungskosten, die nicht auf das Schadensereignis zurückzuführen sind, vorliegen. Der Begriff "glaubhaft machen" ist deshalb im Sinne einer erleichterten Beweisführung wie er in vielen Einzelvorschriften der ZPO und anderer Gesetzen vorgesehen ist, zu verstehen. Die Glaubhaftmachung erfordert dabei keine volle Beweisführung der behaupteten Tatsachen, sondern die Tatsachen müssen lediglich in einer Weise dargelegt und bewiesen werden, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für ihr Vorliegen spricht.
Die Klägerin hat die behaupteten unfallbedingten Behandlungskosten mit der Vorlage der ihr von dem behandelnden Krankenhaus elektronisch übermittelten Daten zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen gemäß §§ 284 Abs. 1 Nr. 11, 295, 300 ff SGB V, von denen der Gesetzgeber in §§ 275ff SGB V davon ausgeht, dass diese im Regelfall richtig sind, glaubhaft gemacht. Nach diesen Unterlagen ist es überwiegend wahrscheinlich, dass die Behandlungskosten auf den Sturz beruhen und nicht auf anderweitigen Erkrankungen der Geschädigten. Entgegen der Auffassung der Beklagten handelt es sich bei den Unterlagen nicht nur um eine reine aus Zahlen bestehende Kostenübersicht, sondern es ergibt sich daraus die Primärverletzung und die deshalb durchgeführte Operation (geschlossene Reposition einer Fraktur oder Epiphysenlösung mit Osteosynthese: Durch Marknagel mit Gelenkkomponenten: Fermur proximal). Des Weiteren ist - auch aufgrund des zeitlichen Zusammenhanges zwischen Sturz und Operation und Krankenhausaufenthalt - nachvollziehbar und schlüssig, dass die Geschädigte wegen der Fraktur operiert wurde und sich an die Operation ein Krankenhausaufenthalt von mehreren Wochen angeschlossen hat, in denen Rehabilitationsmaßnahmen durchgeführt wurden. Es wird angegeben, dass eine "geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung mit bestimmter OR-Prozedur bei Krankheiten und Störungen am Muskelskelett-System und Bindegewebe" durchgeführt wurde. Anhaltspunkte für eine, wie die Beklagte behauptet, "multimodale Komplexbehandlung zur Generalüberholung einer multimorbiden Patientin" ergeben sich weder aus der Verweildauer der Geschädigten im Krankenhaus, noch aus der Höhe der Behandlungskosten und dem Vortrag der Parteien. Tatsächlich hat die Geschädigte einen Oberschenkelbruch in einem Alter erlitten, in dem eine solche Fraktur ohne rechtzeitiger Operation mit einer hohen Sterblichkeit verbunden ist. Es ist nachvollziehbar, dass aufgrund des operativ versorgten Oberschenkelbruchs, um eine Mobilität der hochbetagten Patientin wieder herzustellen, eine geriatrische, frührehabilitative Maßnahme durchgeführt werden musste. Die Beklagte hingegen hat keinerlei substantiierte Einwendungen gegen die Krankenhausabrechnung erhoben, sondern die haftungsausfüllenden Kausalität lediglich pauschal bestritten. Die Klägerin hat mit den inhaltlich aussagekräftigen Unterlagen die Kausalität zwischen geltend gemachten Behandlungskosten und Schadensereignis glaubhaft gemacht.
4. Die Klägerin hat einen Anspruch in Höhe von 6.750,-- € gemäß §§ 1,6 TA. Die Parteien haben ein Limit für den Anspruch aus den Teilungsabkommen festgelegt, nämlich in Höhe von 15.000,-- €. Die Heilbehandlungskosten beliefen sich auf 15.843,96 €. Die Klägerin kann also nur 45 % aus 15.000,-- € von der Beklagten verlangen.
5. Mit Schreiben vom 19.04.2021 forderte die Klägerin die Beklagte zur Zahlung bis zum 17.05.2021 auf. Zahlung lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 21.06.2021 endgültig und ernsthaft ab. Verzugszinsen waren damit antragsgemäß zu gewähren.
6. Der Klägerin stehen zudem vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten als Schaden unter dem Gesichtspunkt des Verzugs, § 286 BGB, zu. Allerdings ist der Ansatz einer 1,8 Gebühr nicht gerechtfertigt. Gerade im Hinblick auf das Teilungsabkommen und die gefestigte Rechtsprechung des BGH zu Teilungsabkommen bei Stürzen von Bewohnern in Pflegeheimen bestanden keine, wie der Klägervertreter meint, schwierigen Fragen zu Kausalzusammenhängen und schwierige Fragen der Beweislast. Weder liegt ein komplexer Sachverhalt vor, noch ist die Sache umfangreich, weder was Sachverhalt, noch die mit der Beklagten geführte Korrespondenz anlangt. Eine Geschäftsgebühr von 1,3 ist damit angemessen. Die Klägerin macht dabei eine um 0,75 gekürzte Geschäftsgebühr gelten, womit es bei einem bereinigten Satz von 0,5 verbleibt. Eine 0,5 Gebühr aus 446,00 € zzgl. Unkostenpauschale in Höhe von 20,00 €, zzgl Mehrwertsteuer, ergibt 289,17€.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 ZPO.
Der Streitwert wurde gemäß § 3 ZPO festgesetzt.
Eine einmalige Aufforderung zur Abgabe eines titelersetzenden Anerkenntnisses genügt - OLG Oldenburg, Beschluss vom 26.04.2022, Az. 8 W 13/22 (veröffentlicht bei juris und beck-online)
Tenor
- Auf die sofortige Beschwerde der Klägerinnen wird die Kostenentscheidung in dem Teilanerkenntnis- und Schlussurteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg vom 28. Februar 2022 abgeändert und wie folgt neu gefasst: Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
- Die Beklagte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
Die zulässige sofortige Beschwerde (§ 99 Abs. 2 Satz 1, § 567 Abs. 1 ZPO) ist begründet, da der Beklagten die Kosten des erstinstanzlichen Rechtsstreits aufzuerlegen sind, soweit diese die geltend gemachten Ansprüche teilweise anerkannt hat (hierzu unter Ziffer 1.). Dies führt zur Abänderung der erstinstanzlichen Kostengrundentscheidung dahin, dass die Beklagte die gesamten Kosten des erstinstanzlichen Rechtsstreits zu tragen hat (hierzu unter Ziffer 11.).
I. Der Beklagten waren die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen, soweit die Beklagte die mit den ursprünglichen Klageanträgen zu den Ziffern 1.1. und II. geltend gemachten Feststellungsansprüche anerkannt hat. Entgegen der Auffassung des Landgerichts lässt sich eine andere Kostenverteilung nicht auf die Regelung des § 93 ZPO stützen, da es sich bei dem mit dem Schriftsatz vom 3. November 2021 erklärten Teilanerkenntnis (GA 32) nicht um ein sofortiges Anerkenntnis im Sinne des § 93 ZPO handelt.
Nach § 93 ZPO fallen dem Kläger die Prozesskosten zur Last, wenn der Beklagte nicht durch sein Verhalten zur Erhebung der Klage Veranlassung gegeben hat und den Anspruch sofort anerkennt. Veranlassung zur Erhebung einer Klage gibt man durch ein Verhalten, das vernünftigerweise den Schluss auf die Notwendigkeit eines Prozesses rechtfertigt. Daraus folgt, dass es für die Frage, ob der Beklagte Anlass zur Klage gegeben hat, auf sein Verhalten vor dem Prozess ankommt (vgl. BGH, Beschluss vom 8. März 2005 -VIII ZB 3/04, juris, Rn. 5). Insoweit gilt der Grundsatz, dass eine Klageveranlassung immer dann gegeben ist, wenn der Beklagte vorprozessual die später anerkannte Klageforderung nicht erfüllt hat, obwohl die Forderung im Sinne des § 286 Abs. 1 BGB fällig und durchsetzbar gewesen ist und der Kläger die Erfüllung angemahnt hat beziehungsweise eine Mahnung gem. § 286 Abs. 2 BGB entbehrlich gewesen ist: Die objektiven Voraussetzungen des Verzuges implizieren grundsätzlich die Klageveranlassung (vgl. BeckOK ZPO/Jaspersen, 44. Ed. 1.3.2022, § 93 Rn. 28 mwN).
Nach diesen Maßstäben hat die Beklagte Anlass zur Erhebung der Klage gegeben. Denn die Klägerinnen hatten ihre den Feststellungsanträgen zu Grunde liegenden Feststellungsansprüche bereits vorgerichtlich unter Fristsetzung erfolglos geltend gemacht, indem sie durch das vorgerichtliche Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 16. Juni 2021 (Anlage 10, Anlagenband „Kläger“) die Beklagte unmissverständlich dazu aufgefordert haben, titelersetzend anzuerkennen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Klägerinnen sämtliche weitere Schäden aus dem Schadensereignis zu ersetzen. Wörtlich heißt es zu Beginn des letzten Absatzes des Schreibens:
„Ich habe Sie daher aufzufordern, den geschuldeten Betrag unverzüglich, spätestens binnen 14 Tagen nach dem Ausstellungsdatum dieses Schreibens, auf mein Anderkonto zu zahlen und titelersetzend anzuerkennen, dass Sie meinen Mandantinnen sämtliche weitere Schäden aus dem Schadensereignis ersetzen."
Dass sich die Fristsetzung nicht nur auf eine Handlung (Zahlung), sondern auf beide geforderten Handlungen (Zahlung und Erklärung des Anerkenntnisses) bezog, ergab sich jedenfalls aus dem letzten Satz des Absatzes:
„Ungeachtet dessen können die erbetenen Handlungen fristgemäß jedenfalls direkt gegenüber meiner Mandantschaft erbracht werden, bitte setzen Sie uns zur Vermeidung von Überschneidungen zeitgleich in Kenntnis."
Insoweit kann auch dahinstehen, ob das Zahlungsverlangen (erheblich) im Vordergrund stand, wie das Landgericht gemeint hat. Entscheidend ist vielmehr, dass die Beklagte ohne weiteres erkennen konnte, dass die Klägerinnen nicht nur die Zahlung, sondern auch die Abgabe der Erklärung binnen der gesetzten Frist verlangt haben. Die Klägerinnen konnten auch davon ausgehen, dass der Beklagten, bei der es sich um ein Versicherungsunternehmen handelt, das unter anderem als Krafthaftpflichtversicherung tätig ist, der Begriff des sogenannten titelersetzenden Anerkenntnisses bekannt und diese deshalb in der Lage ist, das Begehren der Klägerinnen auch inhaltlich vollständig zu erfassen.
Da die Beklagte das titelersetzende Anerkenntnis nicht binnen der gesetzten Frist abgegeben hat und auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass sie irgendwelche Hinderungsgründe benannt hätte, durften die Klägerinnen nach den oben genannten Maßstäben davon ausgehen, dass die Geltendmachung des Feststellungsbegehrens im Wege der Klage erforderlich ist (vgl. auch Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 23. April 2014 -4 W 16/14, juris, Rn. 10; Doukoff in: Freymann/Wellner, jurisPK- Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 14 StVG (Stand: 01.12.2021), Rn. 78). Ebenso wie der Gläubiger bei einer vergeblichen Aufforderung zur Zahlung einer unstreitigen Forderung in der Regel nicht verpflichtet ist, den Schuldner vor Klageerhebung erneut zur Zahlung aufzufordern, mussten die Klägerinnen die Beklagte nicht im Hinblick auf deren unstreitige Haftung dem Grunde nach erneut zur Abgabe der Anerkenntniserklärung auffordern. Schon im Hinblick auf die gesetzte Frist mussten die Klägerinnen auch nicht bis zum drohenden Ablauf der Verjährungsfrist zuwarten, ob die Beklagte noch die geforderte außerprozessuale Erklärung abgeben wird.
Es kommt in diesem Zusammenhang - anders als die Beklagte ausweislich ihrer Ausführungen in dem Schriftsatz vom 12. April 2022 (GA 1 11 f.) offenbar meint - auch nicht darauf an, ob die Klägerin zu 1 der Beklagten bereits vorprozessual die zur Prüfung der Erforderlichkeit der mit dem Klageantrag zu Ziffer 1.1. geltend gemachten Behandlungskosten erforderlichen Belege zur Verfügung gestellt hatte. Denn jedenfalls zur Prüfung der Haftung dem Grunde nach, die Gegenstand des Feststellungsbegehrens ist, waren diese Belege nicht erforderlich.
II. Da die Anwendung des § 93 ZPO ausscheidet, hat die Beklagte nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 91, 92 ZPO) die Kosten hinsichtlich des anerkannten Teils der Klage (Anträge aus der Klageschrift zu den Ziffern 1.2. und II.) zu tragen. Hinsichtlich des übereinstimmend für erledigt erklärten Teils der Klage (Antrag aus der Klageschrift zu der Ziffer 1.1.) folgt die Kostenlast der Beklagten aus § 91a Abs. 1 ZPO und der diesbezüglichen (nicht angegriffenen) Kostengrundentscheidung des Landgerichts.
Hinsichtlich des weiteren Antrags (Ziffer 1.3. der Klageschrift), mit dem die Klägerinnen die Beklagte auf Erstattung von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten nebst Zinsen in Anspruch genommen haben, ist die Klage zwar abgewiesen worden. Da die hierauf beruhende Zuvielforderung aber verhältnismäßig geringfügig ist und keine höheren Kosten veranlasst hat, waren der Beklagten gemäß § 92 Abs. 2 Nr. 1, § 91a Abs. 1 ZPO die gesamten Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.
III. Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
IV. Die Festsetzung eines Streitwerts für das Beschwerdeverfahren gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG kam nicht in Betracht. Gemäß § 63 Abs. 2 GKG ist der Streitwert von Amts wegen für die zu erhebenden Gerichtsgebühren festzusetzen, so dass eine Wertfestsetzung zu unterbleiben hat, soweit die Gerichtsgebühren nicht von dem Streitwert des Verfahrens abhängig sind (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 4. November 2016 - 9 C 16.1684, juris, Rn. 7; OLG Nürnberg, Beschluss vom 1. August 2018 - 3 W 1010/18, juris, Rn. 7; NK-GK/Schneider, 3. Aufl., § 63 GKG Rn. 6). Letzteres ist hier der Fall, da es sich bei der Gebühr für das Verfahren über eine Beschwerde im Sinne des § 99 Abs. 2 ZPO um eine wertunabhängige Festgebühr handelt (Nr. 1810 KV GKG).
Ein aussagekräftiger Beleg genügt als Schadensnachweis - OLG Zweibrücken, Beschluss vom 30. Mai 2022 - Az. 1 W 9/22 (veröffentlicht bei juris und beck-online)
Entscheidung als PDF:
https://ra-prelinger.de/wp-content/uploads/2022/06/OLG_Zweibruecken_1_W_9-22_JURE220028156.pdf
Tenor
- Die sofortige Beschwerde der Beklagten gegen die Kostenentscheidung des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 27.04.2022, Az. 4 O 82/21, wird zurückgewiesen.
- Die Beklagten haben die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
Die gemäß §§ 567 Abs. 1 Nr. 1, 99 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte und im Übrigen auch bei der angefochtenen Mischendentscheidung - durch die die Beklagten in der Hauptsache nicht beschwert sind - zulässige (vgl. Zöller/Herget , ZPO, 34. Aufl. 2022, § 99 Rn. 9) sofortige Beschwerde ist unbegründet. Der Vorderrichter hat im Ergebnis zutreffend den Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auferlegt. Die Beklagten haben Veranlassung zur Klageerhebung gegeben und den geltend gemachten Anspruch nicht sofort anerkannt. Nach ihrem Anerkenntnis sind ihnen die Kosten des Verfahrens gemäß § 93 ZPO aufzuerlegen.
a) Eine Partei gibt Veranlassung zur Klageerhebung, wenn ihr Verhalten vor dem Prozess aus der Sicht des Anspruchstellers bei vernünftiger Betrachtung hinreichenden Anlass für die Annahme bietet, er werde ohne Inanspruchnahme der Gerichte nicht zu seinem Recht kommen (BGH, Beschluss vom 16.01.2020, Az. V ZB 93/18, Juris). Hiervon ist zulasten der Beklagten auszugehen. Insoweit ist bereits zu berücksichtigen, dass die Beklagte zu 2 den fälligen Anspruch der Klägerin trotz mehrfacher vorgerichtlicher Aufforderungen nicht erfüllt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 22.10.2015, Az. V ZB 93/13, Juris). Hiermit befand sie sich im Verzug. Der Senat lässt insoweit dahinstehen, ob und ggfl. in welchem Umfang die Beklagte zu 2 verpflichtet war, ihr fehlende, zur Prüfung indes für erforderlich gehaltene Unterlagen mit zumutbaren Anstrengungen selbst herbeizuschaffen (vgl. etwa BGH, Urteil vom 10.02.2011, Az. VII ZR 53/10, Juris). Denn soweit sie mit Schreiben vom 22.01.2021 (Anlage K 2) Unterlagen über die Heilbehandlung des Versicherten … erbeten hatte, wurden ihr solche in der Anlage zum Schreiben der Klägerin vom 03.02.2021 (Anlage K 3) überlassen. Diese ermöglichten der Beklagten zu 2 grundsätzlich die Prüfung, in welcher Weise der Versicherte durch den streitgegenständlichen Unfall verletzt worden war und welche Leistungen die Klägerin insoweit aufgewendet hatte. Namentlich ergaben sich bereits aus den Ausdrucken über die Krankenhausbehandlungen in der Zeit vom 16.09.2020 bis zum 24.09.2020 und vom 24.09.2020 bis zum 30.09.2020 die behandelten Primärverletzungen des Versicherten; deren Unfallbedingtheit ließ sich vor allem aus dem zeitlichen Zusammenhang erschließen. Entsprechendes gilt für die zweimaligen Krankentransporte und das an den Versicherten gezahlte Krankengeld, hierauf aufgewendete Sozialversicherungsentgelte und entgangene Krankenversicherungsbeiträge.
Genügen dem Schuldner die ihm zur Verfügung gestellten Unterlagen zur Prüfung der Berechtigung der geltend gemachten Ansprüche nicht aus, darf er nicht untätig bleiben; vielmehr obliegt ihm, dem Gläubiger Mitteilung von Leistungshindernis zu machen und die aus seiner Sicht erforderlichen Unterlagen zu benennen und dies zu erläutern (vgl. BGH, Urteil vom 10.02.2011, Az. VII ZR 53/10, Juris). Die Klägerin hatte auf dieses Erfordernis mit Schreiben vom 03.02.2021 (Anlage K 3) ausdrücklich hingewiesen ("Eine Notwendigkeit zur generellen Anforderung sämtlicher Unterlagen ohne konkrete Begründung oder Angabe zur zweckmäßigen Nutzung können wir hier nicht erkennen.") Demgegenüber beschränkte sich die Beklagte zu 2 mit Schreiben vom 12.02.2021 (Anlage K 4) darauf, zu wiederholen, dass ihr "keine ärztlichen Unterlagen zu den Verletzungen" vorliegen würden - tatsächlich lagen ihr ärztliche Unterlagen in Form der Krankenhausberichte vor -, und sie forderte nochmals zu Nachweisen über "Aufnahme- und Entlassungsanzeigen sowie ggf. OP-Berichte" auf - auch diese Umstände ergaben sich bereits aus den vorgelegten Krankenhausberichten.
b) Die Beklagten haben zudem den geltend gemachten Anspruch auch nicht sofort i.S.v. § 93 ZPO anerkannt.
Wurde - wie im Streitfall - das schriftliche Vorverfahren angeordnet, kann die beklagte Partei, sofern mit der Verteidigungserklärung kein Sachantrag angekündigt oder das Klagevorbringen bestritten wird, noch in der fristgerecht eingereichten Klageerwiderung den geltend gemachten Anspruch anerkennen (BGH, Beschluss vom 16.01.2020, Az. V ZB 93/18, Juris). Die Beklagten haben indes erst mit Schriftsatz vom 15.12.2021 - eingegangen bei Gericht am 16.12.2021 - ein Anerkenntnis erklärt. Selbst wenn man einen Ausnahmefall, nach dem die Kosten des Rechtsstreits dennoch nach § 93 ZPO dem Kläger aufzuerlegen wären, darin erblicken würde, dass den Beklagten bei Klageerhebung noch keine ausreichenden Unterlagen zur Prüfung der Primärverletzungen des Versicherten Ackermann und deren Unfallbedingtheit vorlagen (vgl. BGH, für den Fall, dass die Klage im Zeitpunkt des Anerkenntnisses nicht schlüssig und nicht begründet gewesen ist), wäre eine solche Kenntnisnahme- und Überprüfungsmöglichkeit spätestens im Termin der mündlichen Verhandlung vor dem Einzelrichter am 01.12.2021 vorhanden gewesen, mit der der ursprüngliche Mangel der Klage behoben worden wäre und sich damit die Prozesslage geändert hätte. Auch unter Berücksichtigung einer Sichtungs- und Prüfungsfrist für die Beklagten hinsichtlich der in der Ermittlungsakte der StA Frankenthal (Pfalz), Az. …, enthaltenen - ihrerseits schnell und ohne besonderen Aufwand zu beurteilenden - Anlagen wäre der Zeitraum vom 16 Tagen bis zur Prozesserklärung deutlich zu lang für ein sofortiges Anerkenntnis.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist nicht veranlasst, da die diesbezüglichen Voraussetzungen i.S.v. § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO nicht vorliegen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung einer Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Es liegt eine Einzelfallentscheidung vor, mit der der Senat weder von höchstrichterlicher noch von obergerichtlicher Rechtsprechung abweicht.
Zum vollbeherrschbaren Gefahrenbereich bei Mobilisierungsmaßnahmen - OLG Rostock, Beschluss vom 15. März 2022 - Az. 6 U 7/19 (veröffentlicht in: NJW-RR 2022, 1187, juris und beck-online)
Tenor
- Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 06.02.2019, Az. 3 O 32/17, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
- Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.
- Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird vorläufig auf 7.235,10 € festgesetzt.
Gründe
Die Berufung hat nach Überzeugung des Senats offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die zulässige Berufung ist unbegründet (I.). Der Beklagten wird die Rücknahme der Berufung nahegelegt (II.).
I.
Das Landgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die Beklagte haftet für die Folgen des Sturzes der Frau ... in Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Mobilisierungsmaßnahme aus übergegangenem Recht wegen einer Vertragsverletzung (§§ 241 Abs. 1, 280 Abs. 1 BGB) des für Frau ... abgeschlossenen Heimunterbringungsvertrags in der durch das Landgericht festgestellten (durch die Berufung nicht angegriffenen) Höhe.
Der Sturz beruhte auf einer schuldhaften Pflichtverletzung der Beklagten. In dem Sturz hat sich ein Risiko verwirklicht, dass von der Beklagten als Betreiberin der Pflegeeinrichtung vollständig hätte beherrscht werden können und müssen (1.), so dass die Beklagte hätte darlegen und beweisen müssen, dass der Sturz nicht auf einem Fehlverhalten des Pflegepersonals beruht; dieser Beweis ist der Beklagten nicht gelungen (2.).
1.
Wenn sich bei einer ärztlichen Behandlung ein Risiko verwirklicht, das von der Behandlungsseite voll hätte beherrscht werden können und müssen, so muss sie darlegen und beweisen, dass sie alle erforderlichen organisatorischen und technischen Vorkehrungen ergriffen hatte, um das Risiko zu vermeiden. Voll beherrschbare Risiken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie durch den Klinik- oder Praxisbetrieb gesetzt werden und durch dessen ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden können und müssen. Sie sind abzugrenzen von den Gefahren, die aus den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus bzw. den Besonderheiten des Eingriffs in diesen Organismus erwachsen und deshalb der Patientensphäre zuzurechnen sind. Denn die Vorgänge im lebenden Organismus können auch vom besten Arzt nicht immer so beherrscht werden, dass schon der ausbleibende Erfolg oder auch ein Fehlschlag auf eine fehlerhafte Behandlung hindeuten würden (BGH vom 16.08.2016, VI ZR 634/15, juris Rz. 6 m.w.N.). Entsprechendes gilt für die Beweislastverteilung für die Haftung im Rahmen der Betreuung pflegebedürftiger Menschen in Heimen: zwar fällt der normale alltägliche Gefahrenbereich im Heim grundsätzlich in die Risikosphäre des Bewohners, so dass dieser im Schadensfall für die Pflichtverletzung und deren Kausalität darlegungs- und beweisbelastet ist. Im Bereich der voll beherrschbaren Risiken liegt aber andererseits eine konkrete Gefahrensituation vor, die gesteigerte (erfolgsbezogene) Obhutspflichten bezüglich des Heimbewohners auslöst und deren Beherrschung gerade einer speziell dafür eingesetzten Pflegekraft anvertraut ist. Deshalb greift eine Beweislastumkehr analog § 280 Abs. 1 S. 2 ein, so dass sich der Heimträger entlasten muss (OLG Hamm vom 27.01.2014, 17 U 35/13, juris Rz. 8; KG vom 10.09.2007, 12 U 145/06, juris Rz. 5; LG Marburg vom 31.07.2017, 5 S 48/17, juris Rz. 9). In diesen Fällen obliegt es deshalb der Behandlungsseite, sich von der Annahme zu entlasten, der eingetretene Gesundheitsschaden, der zu dem geltend gemachten Schaden geführt hat, sei auf ein Verschulden des Pflegepersonals zurückzuführen (KG a.a.O., LG Marburg a.a.O.).
Eine vergleichbare Situation hat im Streitfall vorgelegen. Das voll beherrschbare Risiko ist dadurch entstanden, dass die Leitung des Pflegezentrums ... deren Handeln sich die Beklagte zurechnen lassen muss, am Unfalltag eine Mobilisierung der Frau ... mit Hilfe eines Gehwagens durchgeführt hat. Angesichts der im unstreitigen Tatbestand des angefochtenen Urteils dargestellten und durch die Berufung nicht angegriffenen gesundheitlichen Situation von J. (insbesondere: fast vollständige, demenzbedingte Desorientiertheit; Neigung zu Fehlhandlungen und motorischer Unruhe; "Läufer" mit Hinlauftendenz; Sturzgefahr bei erschwerter Geh- und Stehfähigkeit; Unfähigkeit, Aufforderungen umzusetzen und verständlich verbal zu kommunizieren; bereits Stürze in der Vorgeschichte der Patientin) liegt es nach Auffassung des Senats auf der Hand, dass durch die Mobilisierung insgesamt (nicht bloß durch das Ein- und Aussteigen in den bzw. aus dem Gehwagen) eine gesteigerte und erfolgsbezogene Obhutspflicht der Beklagten wirksam geworden ist, die über den allgemeinen alltäglichen Gefahrenbereich im Heim hinausgeht.
Die gegen das Bestehen einer besonderen Obhutspflicht während der Mobilisierung vorgebrachte Argumentation der Berufung, es sei seitens der Pflegekräfte nicht damit zu rechnen gewesen, dass sich Frau ...während der Mobilisierung plötzlich entfernen und den Flur des Wohnbereichs verlassen würde, überzeugt nicht. Es kann angesichts des unstreitigen Gesundheitszustands von Frau ... nicht überraschen, dass sie sich in einem Moment des Unbeobachtetseins entfernt hat. Auch die Möglichkeit eines Verlassens des geschützten Flurbereichs in den Bereich des Treppenhauses ist nicht allzu unwahrscheinlich gewesen, wenn die aus dem Flur hinausführende Tür - wie hier - nicht gesichert ist und außer durch qualifiziertes Personal auch mittels einfachem Öffner durch jeden Patienten geöffnet werden kann. Das Durchschreiten der zu öffnenden Tür durch Mitpatienten mit der zwangsläufigen Folge einer Möglichkeit des mobilisierten Patienten, ebenfalls hinauszugelangen, ist bei dieser Sachlage keine außergewöhnliche Besonderheit, sondern als Möglichkeit in die Überlegungen zur Sicherung des mobilisierten Patienten einzubeziehen. Letztlich erscheint gerade auch der streitgegenständliche Ablauf angesichts der örtlichen Gegebenheiten nicht als besonders unwahrscheinlich und bestätigt letztlich, dass die Situation bei Durchführung der Mobilisation von ... von Vorneherein eine besondere Obhutspflicht begründet hat.
Konkreter Gegenstand dieser Obhutspflicht ist es gewesen, etwa durch ständige Anwesenheit einer Pflegekraft sicherzustellen, dass Frau ... nicht unbeobachtet bleibt und es deshalb zu einem Entweichen aus dem Flur und folgend zu einem Unfall kommen kann.
Das Vorliegen einer solchen Obhutspflicht ist der Beklagten auch bewusst gewesen, weshalb die Mobilisierung der Frau ... ja auch mit einer Einzelbetreuung durch die Zeugin ... durchgeführt worden ist.
2.
Der Beklagten ist nicht der Beweis gelungen, dass sie dieser Obhutspflicht nachgekommen ist.
Das Landgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme festgestellt, dass der mit der Durchführung der Mobilisierung betrauten Zeugin ... in individuelles Verschulden vorzuwerfen ist, das für den Unfall ursächlich geworden ist und das die Beklagte sich gem. § 278 BGB zurechnen lassen muss. Die Zeugin sei nicht rechtzeitig tätig geworden, als sie wahrgenommen habe, dass der Türöffner im Flur durch die weitere Patientin ... betätigt worden sei, obwohl sie die geschädigte Frau ... zu diesem Zeitpunkt nicht habe sehen können.
An diese landgerichtlichen Feststellungen ist der Senat gemäß §§ 529 Abs. 1 Nr. 1, 314 Satz 1 ZPO soweit gebunden, wie keine Anhaltspunkte für eine Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit zu erkennen sind, die eine Neufeststellung gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebieten könnten. Seit der Reform der Zivilprozessordnung zum 1. Januar 2002 ist die Berufungsinstanz zudem nicht mehr Wiederholung der erstinstanzlichen Tatsacheninstanz, sondern dient der Fehlerkontrolle und -beseitigung. Deshalb bestimmt § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, dass das Berufungsgericht an die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden ist, sofern nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Tatsachen begründen. Konkrete Anhaltspunkte im vorgenannten Sinne können sich insbesondere aus Verfahrensfehlern ergeben, wenn etwa die vom erstinstanzlichen Gericht vorgenommene Beweiswürdigung nicht den von der Rechtsprechung zu § 286 ZPO entwickelten Grundsätzen genügt. Dies ist der Fall, wenn das Gericht die von einer Partei unter Beweis gestellten Behauptungen nicht berücksichtigt oder die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich ist oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2009 – VI ZR 261/08, juris Rn. 5; Urteil vom 6. Juli 2010 – VI ZR 198/09, juris Rn. 14).
Derartige Verstöße gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze sind in der landgerichtlichen Beweiswürdigung nicht zu erkennen. Die Beweiswürdigung ist nebst der hieraus abgeleiteten rechtlichen Schlussfolgerungen nicht nur vertretbar, sondern auch überzeugend. Im einzelnen gilt Folgendes:
a)
Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme ist bereits nicht festzustellen, dass die Zeugin ... sich ohne Verletzung ihrer gegenüber der Frau ... bestehenden Obhutspflichten überhaupt in den Toilettenbereich begeben und Frau ... auf dem Flur alleine lassen durfte, als sie von ihrer Kollegin, der Zeugin ... gerufen wurde, um dieser bei der Betreuung des auf der Toilette befindlichen weiteren Patienten zu helfen. Denn bereits hierdurch hat sie die im Rahmen der vorliegenden Obliegenheitspflicht geschuldete ständige Aufsicht über Frau ... "aus der Hand gegeben". Selbst dann, wenn sie - wie sie in ihrer Zeugenaussage bekundet hat - zunächst dafür Sorge getragen hat, dass sie Frau ... durch den geöffneten Spalt der Toilettentür im Blick behält, durfte sie sich hierauf nicht verlassen. Aufgrund des gesundheitlichen Zustandes der Frau ... und dem Umstand, dass Frau ...an dem betroffenen Tag auch nach eigener Bekundung der Zeugin "gut gelaufen" und "mit zügigem Schriftt unterwegs" war, musste die Zeugin damit rechnen, dass Frau ... sich von der Toilette weg und in andere Bereiche des Flures bewegen würde, wo ihre Bewegungen von dem Toilettenraum aus nicht mehr kontrollierbar waren.
Hiergegen wendet die Beklagte ohne Erfolg ein, es habe sich bei der Situation auf der Toilette um einen Notfall gehandelt, der zur Vermeidung eines Sturzes des dort befindlichen Patienten dringend einer sofortigen Unterstützung durch die Zeugin ... bedurft hätte. Das Vorliegen eines solchen Notfalls hat jedoch keine der beiden Zeuginnen bestätigt, die Beklagte es mithin nicht bewiesen.
Vielmehr ist nach ihren Bekundungen davon auszugehen, dass der auf der Toilette befindliche Patient auf der Toilette saß, als die Zeugin hinzukam. Auch wenn der Patient - entsprechend der Behauptung der Beklagten - in der Situation ein "erhebliches Abwehrverhalten" an den Tag gelegt haben und möglicherweise nicht durch die Zeugin ... sofort alleine von der Toilette zurück in den Rollstuhl hätte bewegt werden können, ergibt sich aus der Schilderung beider Zeuginnen doch keine Situation, die eine sofortige Unterstützung durch die Zeugin ... zur Vermeidung der Gefährdung anderer Rechtsgüter so dringend erforderlich gemacht hätte, dass dies das Zurücklassen der Frau ... auf dem Flur rechtfertigen würde.
b)
Jedenfalls hat die Zeugin ... dann allerdings gegen die der Frau ... gegenüber bestehenden Obhutspflichten verstoßen, als sie zunächst mit der Zeugin ... und dem weiteren Patienten im Toilettenbereich geblieben ist, obwohl sie wahrgenommen hat, dass die weitere Patientin Frau ... auf dem Flur den Türöffner betätigt hatte und Frau ... deshalb ein Verlassen des Flurbereichs möglich war.
Der durch die Zeuginnen, insbesondere die Zeugin ... selbst bekundete Verlauf belegt, dass die Zeugin nach Wahrnehmung des Türöffners nicht sofort nach Frau ... gesehen hat, sondern hiermit zunächst gewartet hat. Auch was diesen Zeitpunkt betrifft, ist nicht zu erkennen, dass ein sofortiges Verlassen der Toilette durch die Zeugin wegen der dort gegebenen Situation zu einer konkreten Gefährdung des dort befindlichen Patienten oder der Zeugin ... geführt und deshalb das Verbleiben in den Toilettenräumlichkeiten gerechtfertigt hätte.
Insoweit hat die Zeugin selber bekundet, dass sie den Türöffner gehört und daraus sofort geschlussfolgert hat, dass Frau ... den Flurbereich verließ. Damit musste ihr klar sein, dass auch Frau ... den Flur durch die offene Tür verlassen konnte. Dies gilt angesichts der unstreitig festgestellten demenzbedingten Neigungen von Frau ... unabhängig davon, ob sie mit Frau ... bekannt / befreundet war oder nicht.
Ob die Zeugin ... in diesem Moment (wenigstens) geschaut hat, ob Frau ... sich noch vor der Toilettentür befand, konnte die Zeugin genauso wenig erinnern, wie die Dauer des Zeitraums zwischen der Wahrnehmung des Türöffners und dem Moment, in dem sie letztlich feststellte, dass Frau ... sich nicht mehr vor der Toilettentür befand. Zwar hat die Zeugin bekundet, sie habe dann - als sie Frau ... nicht mehr erblicken konnte - "unverzüglich" das WC verlassen, um nach Frau ... zu schauen. Ob dies allerdings bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt die Betreuung des auf der Toilette befindlichen Patienten durch die Zeugin ... abgebrochen oder noch abgeschlossen wurde, konnte die Zeugin ... nicht erinnern. Die Zeugin ... hat hierzu bekundet, die Zeugin ... habe die Toilette erst verlassen, als der Patient wieder in seinem Rollstuhl saß.
Dass das Verlassen der Toilette durch die Zeugin ... jedenfalls zu spät und der zeitliche Abstand zu dem von der Zeugin vorher wahrgenommenen Öffnen der Flurtür zu groß war, ergibt sich schon aus der weiteren Bekundung der Zeugin, sie habe, als sie aus dem Toilettenraum auf den Flur kam, weder Frau ... noch Frau ... noch sehen können. Beide müssen also zu diesem Zeitpunkt die - nach Bekunden der Zeugin - ca. 3 m zwischen Toiletten- und Flurtür und die Strecke über das sich anschließende Podest bereits zurückgelegt haben. Als die Zeugin ... dann durch die Flurtür getreten ist, hatte sich Frau ... bereits so weit wegbewegt, dass die Zeugin sie nach eigenem Bekunden überhaupt nicht mehr gesehen hat und Frau ... war - ebenfalls so bekundet - zu diesem Zeitpunkt bereits gestürzt, ohne dass die Zeugin den Sturz noch mitbekommen hat.
Dieser zeitliche Ablauf belegt - ohne dass er in Sekunden ausgedrückt werden müsste -, dass in vermeidbarer Weise genau der Ablauf eingetreten ist und zu dem streitgegenständlichen Schaden geführt hat, der im Rahmen der der Beklagten obliegenden Obhutspflicht gerade hätte vermieden werden sollen.
c)
Dem Senat ist bewusst, dass von Pflegekräften in derartigen Situationen schwierige Interessenabwägungen erwartet werden, die in sehr kurzer Zeit durchzuführen sind und bei denen oftmals nicht unerhebliche Gefahren gegeneinander abgewogen werden müssen. Auch hat der Senat keinen Zweifel daran, dass die Zeugin ... vorliegend in einer für sie schwierigen Situation nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat. Gleichwohl scheint das Vorliegen einer schuldhaften Obliegenheitsverletzung hier eindeutig: Die Zeugin ... hätte in der gegebenen Situation nicht sofort zur Unterstützung der Zeugin ... eilen dürfen oder hätte jedenfalls nach dem ihr möglichen Erkennen, dass in den Toilettenräumlichkeiten - wie von ihr selbst bekundet - offenbar keine erhebliche Gefährdung von Rechtsgütern konkret drohte, sofort zu Frau ... rückkehren müssen. Wenn sie dennoch bei der Zeugin ... lieb, hätte sie wenigstens sofort bei Wahrnehmung des Türöffners im Flur sofort zu Frau ... zurückkehren müssen. Diese Abwägung beruht darauf, dass der Zeugin der völlig hilflose Zustand von Frau ... bekannt war, ebenso wie deren Neigung, sich unkontrolliert und mit einer gewissen Geschwindigkeit fortzubewegen.
Die Gewährleistung der geschuldeten Sorgfalt wäre der Beklagten auch mit den von ihr geschuldeten vernünftigen finanziellen und personellen Aufwänden möglich gewesen (vgl. BGH vom 28.04.2005, III ZR 399/04, juris Rz. 7). Schließlich war richtigerweise eine Einzelbetreuung für die Mobilisierung angeordnet (und damit offensichtlich finanziell und personell möglich). Diese hätte mit vertretbaren Mitteln auch in der konkreten Situation beibehalten werden können, denn ein Zuwarten mit der Beförderung des auf der Toilette sitzenden Patienten in seinen Rollstuhl bis zu einer "Sicherung" der Frau ... oder bis zum Eintreffen einer weiteren Pflegekraft hätte erkennbar keine mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichbare Rechtsgutsverletzung verursacht.
d)
Auf die von der Berufung aufgeworfene Frage, ob die Mobilisierung mittels Gehwagen im Fall von Frau ... fehlerhaft gewesen ist, kommt es nach alledem nicht an.
II.
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).
Zur Herausgabepflicht bezüglich der Patientenakte bei Verstorbenen ohne Schweigepflichtsentbindungserklärung der Erben - LG Kassel, Urteil vom 2. März 2022, Az. 2 O 560/21 (veröffentlicht bei juris und beck-online)
Tenor
- Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin sämtliche Behandlungsunterlagen über die Patientin …, die mit deren Behandlung bei der Beklagten im Zeitraum von 22.01.2019 bis einschließlich 10.05.2019 in Zusammenhang stehen, insbesondere einen Auszug aus der Patientenakte der Patientin, Kopien des bildgebenden Materials, die Operationsberichte sämtlicher Operation im angegebenen Zeitraum, in Kopie herauszugeben - Zug um Zug gegen Erstattung der hierfür erforderlichen und angemessenen Kosten.
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren des Prozessbevollmächtigten in Höhe von 1.657,67 € zu zahlen
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren des Prozessbevollmächtigten der Klägerin aus dem Verfahren der ebenfalls nach Behandlung bei der Beklagten verstorbenen, ehemaligen Versicherten der Klägerin, …, in Höhe von 1.142,14 € zu zahlen
- Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte
- Dieses Urteil ist in Ziffer 1 gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 1.000,- Euro, im Übrigen gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages, vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Herausgabe von Behandlungsunterlagen einer verstorbenen Versicherungsnehmerin, um selbst bzw. nach § 275 Abs. 3 Nr. 4 SGB V durch den medizinischen Dienst prüfen zu lassen, ob ein Behandlungs-oder Pflegefehler durch die Behandler in der von der Beklagten betriebenen Klinik vorliegt, der auf sie nach § 116 SGB X übergegangen ist. Die Klägerin ist gesetzlicher Krankenversicherungsträger der verstorbenen Patientin, … . Die Beklagte ist Betreiberin des … . Die Beklagte verweigert die Herausgabe der Behandlungsunterlagen der verstorbenen Patientin. Die Klägerin vermutet Behandlungsfehler im Zusammenhang mit einer Behandlung in einer Klinik der Beklagten in der Zeit vom 22.01.2019 bis einschließlich 10.05.2019. Mit Schreiben vom 21.11.2019 (Bl. 26 d.A.), 06.02.2020 (Bl. 25 d.A.) und 01.04.2020 (Bl. 23 d.A.) forderte die Klägerin die Beklagte, unter Fristsetzung, auf die streitgegenständlichen Unterlagen zwecks Prüfung herauszugeben, was die Beklagte ablehnte mit der Begründung, dass die Klägerin eine Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben beizubringen habe. Gleichfalls forderte die Klägerin u.a. mit Schreiben vom 29.06.2020 (Bl. 27 d.A.) von der Beklagten die Herausgabe der Behandlungsunterlagen, der ebenfalls verstorbenen Patientin, …, für den Behandlungszeitraum vom 15.01.2020 bis 01.02.2020 heraus. Mit anwaltlichen Schreiben vom 03.11.2020 (Bl.20 f. d.A.) wurde nochmals die Übersendung der Behandlungsunterlagen gefordert und die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten, 1,3 Gebühr aus einem Gegenstandswert von 19.217,18 €, mit 1.142,14 € beziffert. Nachdem die Beklagte zunächst die Herausgabe verweigerte, wenn nicht eine Schweigepflichtentbindungserklärung vorgelegt werde, übersandte sie dann "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" die Unterlagen. Mit Schreiben vom 13.12.2020 forderte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin daraufhin die Begleichung der angefallenen Kosten seiner außergerichtlichen Tätigkeit unter Fristsetzung bis zum 15.01.2021. Die Beklagte lehnte die Übernahme der Kosten mit Schreiben vom 14.01.2021 ab und zahlte nicht.
Die Klägerin ist der Ansicht, ihr stehe ein Anspruch auf Herausgabe der für die Begutachtung bzw. Prüfung eines etwaigen Regressanspruchs notwendigen Unterlagen zu. Die Krankenkasse als der Versicherungsträger sei nicht unmittelbar am Behandlungsgeschehen beteiligt. Erfolge ein Behandlungsfehler, gehe der Schadensersatzanspruch des Patienten zwar sofort mit dem schädigenden Ereignis gemäß § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X auf die Krankenkasse über, hiervon zu unterscheiden sei aber die Frage der Verjährung. Gerade bei Behandlungsfehlern bekomme die Krankenkasse nämlich nicht automatisch die gemäß § 199 Abs. 1 BGB für die Verjährung auslösende Kenntnis. Die Klägerin sei zudem gemäß § 76 Abs. 1 SGB IV verpflichtet, die Einnahmen unverzüglich und vollständig zu erheben und habe daher eine öffentlich-rechtliche Pflicht, Schadensersatzansprüche bzw. Gesundheitsschäden ihrer Mitglieder auf mögliches Drittverschulden hin zu überprüfen, um gegebenenfalls Ersatzansprüche nach § 116 SGB X geltend machen zu können. Im vorliegenden Fall würden die elektronischen Krankenhausdaten der Patientin … bezüglich ihres Behandlungsaufenthalts im Klinikum der Beklagten gleich 2 Komplikationen aufweisen, aus denen sich Verdachtsmomente ergeben würden. Zum einen der Code T81.0, welcher für eine Komplikation im Zusammenhang mit einem Eingriff, bei dem eine Blutung oder ein Hämatom entstand und zum anderen der Code T82.1, welcher für eine Komplikation im Zusammenhang mit einem Eingriff, bei dem eine mechanische Komplikation mit einem kardialen elektronischen Gerät (Herzschrittmacher) besteht. Beide Komplikationen seien durch die von der Beklagten betriebenen Klinik übermittelten Daten im streitgegenständlichen Fall entstanden. Im Zusammenhang mit den völlig ungewöhnlich hohen Kosten von 300.639,16 € sei die Mitteilung einer Komplikation ein objektiver Anhaltspunkt, der eine Prüfung dieses Verdachts notwendig mache. Ob es sich bei den Komplikationen um nicht vermeidbare Komplikationen oder um tatsächliche Behandlungsfehler handele, könne sodann aber nur anhand der Behandlungsunterlagen nachvollzogen werden. Die Rechtsprechung billige den Sozialversicherungsträgern in dieser Situation einen Herausgabe- und Einsichtsanspruch als Nebenrecht zu. Mit dem vermuteten Schadensersatzanspruch gehe auch der Anspruch auf Herausgabe der Behandlungsunterlagen gemäß §§ 116 Abs. 1 SGB X i.V.m. §§ 401, 412 BGB von der geschädigten Person auf die Klägerin über. Auch ohne das Vorliegen einer Schweigepflichtentbindungserklärung sei regelmäßig von der mutmaßlichen Einwilligung des Verstorbenen Patienten auszugehen, so dass die Behandlungsunterlagen herauszugeben seien. Die Klägerin ist ferner der Ansicht, dass ein Anspruch gemäß § 286 Abs. 1 Nr. 3 BGB auf Zahlung der außergerichtlichen Anwaltsgebühren aus einer Gebühr von 1,8 begründet sei. Aufgrund der Anrechnungsvorschriften, erfolge eine Abrechnung in Höhe einer 1,0 Gebühr. Hinsichtlich der Patientin … nach einer 1,3 Gebühr.
Die Klägerin beantragt [wie erkannt]
Die Beklagte ist der Ansicht, dass der Klägerin kein Anspruch auf Herausgabe der Behandlungsunterlagen der Patientin … zustehe. Gesetzlich normiert sei weder im Sozialrecht eine einschlägige Ermächtigungsgrundlage der Klägerin zur Auskunftserteilung gegenüber der Beklagten noch sei nach der Kodifizierung des Patientenrechtegesetzes eine zivilrechtliche Anspruchsgrundlage vorhanden. Die Herleitung eines Anspruchs der Klägerin aus § 116 SGB X i.V.m. §§ 401 analog, 412 BGB, überzeuge nicht, soweit dies ohne eine Legitimation durch eine Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben der verstorbenen Versicherten … geschehe. Die von der Klägerin zitierten Urteile seien sämtlich auf Sachverhalte zurückzuführen, bei welchen Schweigepflichtentbindungserklärung vorliegen würden bzw. vor in Kraft treten des Patientenrechtsgesetzes. Vorliegend sei dies aber gerade nicht der Fall. Es sei auch nicht auf den mutmaßlichen Willen der Patientin abzustellen bzw. darauf, dass diese mit einer Einsichtnahme einverstanden gewesen wäre. In § 630g Abs. 3 BGB sei ausdrücklich geklärt, dass Ansprüche den Erben zustehen würden. Die Klägerin, als Krankenkasse sei hier nicht aufgeführt. Da das Einsichtsnahmerecht im Todesfall ausdrücklich geregelt wurde, sei auch nicht von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen. Die Klägerin bedürfe daher der Vorlage einer Schweigepflichtentbindungserklärung durch die Erben, die die Klägerin jedoch bis heute nicht vorgelegt habe. Mangels Vorlage der Schweigepflichtentbindungserklärung, stehe der Klägerin kein Anspruch auf Herausgabe der begehrten Behandlungsunterlagen zu. Sowohl aus berufsrechtlichen Gründen wie auch aus strafrechtlichen Gründen, bestehe eine Verschwiegenheitsverpflichtung, so dass ohne Vorlage der Schweigepflichtentbindungserklärung keine Auskünfte bzw. Herausgabe der Behandlungsunterlagen erfolgen könne. Hinsichtlich der Patientin …, habe die Klägerin keinen Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Anwaltskosten. Auch insoweit habe die Klägerin keine Schweigepflichtentbindungserklärung vorgelegt, so dass die Beklagte aus diesem Grunde mit der Herausgabe nicht in Verzug gewesen sei. Zudem habe es sich bei den Schreiben der Klägerin vom 29.05.2020 und 06.07.2020 lediglich um Bitten zur Übersendung der Unterlagen gehandelt. Eine Fristsetzung sei nicht gesetzt worden, so dass keine eindeutige und bestimmte Leistungsaufforderung vorgelegen habe. Die Beklagte habe mitgeteilt, dass man im Falle der Vorlage der Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben selbstverständlich die angeforderten Behandlungsunterlagen übersenden werde. Eine endgültige und ernsthafte Leistungsverweigerung liege daher gerade nicht vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Klage ist zulässig und begründet.
II.
1. Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Einsicht in die Behandlungsunterlagen gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB zu.
a) Unstrittig haben die Patientinnen, mithin auch die verstorbenen Versicherungsnehmerinnen der Klägerin, Frau … und Frau …, gemäß § 630 g Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Einsichtnahme in die vollständigen Patientenunterlagen. Dieser Einsichtsanspruch ist gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB auf die Klägerin übergegangen. Die Klägerin war zur Übernahme der Krankenkosten verpflichtet. Im Hinblick auf solche Kosten, die aufgrund einer fehlerhaften Behandlung entstanden sind, kann den Versicherten ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte zustehen, welcher gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf die Klägerin übergehen würde. Entsprechend steht der Klägerin zur Prüfung derartiger Schadensersatzansprüche auch aus übergegangenem Recht ein Anspruch auf Einsicht in die Krankenunterlagen zu.
b) Zu Unrecht beruft sich die Beklagte in diesem Zusammenhang auf eine bestehende Verschwiegenheitsverpflichtung.
Dabei ist grundsätzlich zutreffend, dass die von der Beklagten betriebene Klinik und die dortigen Behandler gegenüber den verstorbenen Versicherten sowohl aus dem Behandlungsvertrag, als auch unter Berücksichtigung von § 203 Abs. 4 StGB zur Verschwiegenheit verpflichtet sind und daher grundsätzlich gehindert sind, die Behandlungsunterlagen anderen Personen (Dritten) zur Verfügung zu stellen.
Diese Verschwiegenheitsverpflichtung greift grundsätzlich auch über den Tod der Betroffenen hinaus, wie sich dies aus § 203 Abs. 4 StGB ergibt. Dies gewährleistet, dass geheimhaltungsbedürftige Tatsachen auch nach dem Versterben der Betroffenen weiter geheim gehalten bleiben.
Jedoch hängt es nach dem Tode des Betroffenen vom mutmaßlichen Willen des Verstorbenen ab, ob und in welchem Umfang der Geheimnisträger zum Schweigen verpflichtet ist. Hat sich der Verstorbene hierüber zu Lebzeiten geäußert, ist grundsätzlich der geäußerte Wille maßgeblich. Lässt sich dagegen eine Willensäußerung nicht feststellen, muss der mutmaßliche Wille des Verstorbenen erforscht werden. Dabei sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.
Dem mutmaßlichen Willen der Versicherten kommt auch in der vorliegenden Konstellation entscheidende Bedeutung zu. Insbesondere ist der mutmaßliche Wille vor einer etwa eingeholten Entscheidung der Erben vorrangig.
Dem steht auch nicht § 630g Abs. 3 BGB entgegen. Danach stehen im Falle des Todes des Patienten Einsichtsnahmerechte den Erben und den nächsten Angehörigen zu. Damit ist zum einen klargestellt, in welchen Fällen das Einsichtsnahmerecht vererbt wird, zudem wird ein eigenes Recht auf Einsichtnahme den nächsten Angehörigen zugestanden. Die Rechtsstellung der Berechtigten wird damit insbesondere auch dadurch gestärkt, dass diese Einsichtsnahmerechte geltend machen können, ohne den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen nachweisen zu müssen und es vielmehr, gerade auch in Zweifelsfällen, dem Behandler obliegt, einen entgegenstehenden mutmaßlichen Willen darzulegen. Letztlich kommt allerdings - auch nach der Regelung des § 630 g Abs. 3 BGB dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen die entscheidende Bedeutung zu. Dies geht aus § 630 g Abs. 3 Satz 2 BGB explizit hervor.
Im Rahmen des Patientenrechtegesetzes wurde auch der § 630 g BGB eingeführt. Das Patientenrechtegesetz regelt die Rechtsstellung zwischen Patient und Behandler. § 630g Abs. 3 BGB regelt mithin die Rechtsstellung der Erben und nahen Angehörigen gegenüber dem Behandler. Der Argumentation der Beklagten, der Kreis derjenigen, welche neben dem Patienten ein Recht auf Einsicht in die Behandlungsdokumentation hätten, sei durch § 630g BGB abschließend geregelt, kann sich die Kammer nicht anschließen. Alleine aus der Verbesserung der Rechtsstellung der Hinterbliebenen nach dem Patientenrechtegesetz kann nicht der Schluss gezogen werden, dass das Einsichtsnahmerecht in § 630 g BGB abschließend geregelt und die Rechtsstellung anderer möglicher Verfahrensbeteiligter, insbesondere der beteiligten Krankenkassen, im Vergleich zur früheren Rechtslage eingeschränkt werden sollte. Hierfür bieten weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift Anhaltspunkte. Es besteht auch Einigkeit, dass jedenfalls Rechte aus § 810 BGB weiterhin bestehen können (Palandt/Sprau, 75. Auflage, § 810 BGB Rn. 4). Zudem belegt § 630 g Abs. 3 Satz 2 BGB, dass dem mutmaßlichen Willen des verstorbenen Patienten auch nach dem Patientenrechtegesetz weiterhin die entscheidende Bedeutung zukommt.
Daher kann die Klägerin grundsätzlich ein gem. § 116 SGB X auf sie übergegangenes Recht auf Einsichtnahme geltend machen, soweit dies dem mutmaßlichen Willen der Verstorbenen entspricht.
c) Die Entscheidung, ob die Verstorbene die Krankenkasse mutmaßlich von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden hätte, obliegt dem jeweiligen Geheimnisträger. Ihm kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu, der durch die Gerichte nur eingeschränkt nachprüfbar ist. Der Geheimnisträger ist daher zu einer gewissenhaften Überprüfung verpflichtet, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Verstorbene die ganz oder teilweise Offenlegung der Krankenunterlagen gegenüber der möglicherweise zum Schadensersatz berechtigten Krankenkasse missbilligt hätte (OLG München, Beschluss, vom 19.09.2011, 1 W 1320/11 Rn. 16). Dabei genügt es jedoch nicht, dass sich die Beklagte nur grundsätzlich auf ihre Pflicht zur Verschwiegenheit beruft. Es muss vielmehr nachvollziehbar vorgetragen werden, dass sich die Weigerung auf konkrete oder mutmaßliche Belange der Verstorbenen und nicht auf sachfremde Gesichtspunkte stützt.
Im vorliegenden Fall hat die Beklagte jedoch keinerlei Gesichtspunkte vorgetragen, die für oder gegen den mutmaßlichen Willen der Verstorbenen sprechen würden.
In Fällen wie dem vorliegenden, in dem die Entbindung von der Schweigepflicht dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen wegen der Verletzung von Behandlungspflichten ermöglichen soll, wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Offenlegung der Unterlagen gegenüber dem Krankenversicherer dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entspricht. Insoweit wird auf die Entscheidung des BGH betreffend behaupteter Ansprüche bei fehlerhafter Behandlung in einem Pflegeheim, BGH Urteil vom 26.02.2013, Az. VI ZR 359/11, Rn. 13, verwiesen. Es ist zwar zutreffend, dass in dieser Entscheidung nicht auf das Patientenrechtegesetz eingegangen wird (dieses ist erst am Tag der Entscheidung in Kraft getreten), wie aber bereits oben ausgeführt, steht nach Auffassung der Kammer das Patientenrechtegesetz dem Einsichtsnahmerecht der Klägerin nicht entgegen.
Es ist daher davon auszugehen, dass der Patient grundsätzlich an der Aufdeckung von Behandlungsfehlern interessiert ist. Darüber hinaus ist auch davon auszugehen, dass der Verstorbene kein Interesse daran hat, dass etwaige Schadensersatzansprüche verfallen und die entsprechenden Schäden von der Solidargemeinschaft des Krankenversicherten getragen werden müssen. In diesem Zusammenhang kann, auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Krankenkasse ohnehin bereits über eine Vielzahl von Informationen und Unterlagen in Bezug auf die ärztliche Behandlung des (verstorbenen) Patienten verfügt, so dass das Geheimhaltungsinteresse im Verhältnis zur Krankenkasse grundsätzlich geringer sein dürfte als gegenüber weiteren Dritten.
Daher ist davon auszugehen, dass der mutmaßliche Wille der Verstorbenen hier dahingeht, dass die Klägerin Einsicht in die Behandlungsunterlagen nehmen kann. Insoweit ist die zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Einsichtsnahmerecht von Pflegekassen entsprechend anzuwenden (LG München I Endurteil v. 15.11.2017 – 9 O 3174/17, BeckRS 2017, 144974 Rn. 17-32, beck-online).
2. Der Klägerin steht ferner ein Anspruch auf Erstattung der außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu.
Die Beklagte lehnte die Herausgabe der Behandlungsunterlagen der Verstorbenen, ohne Vorlage einer Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben, ab. Wie unter 1. ausgeführt erfolgte dies zu Unrecht.
Hinsichtlich der Versicherten, Frau …, erfolgte die Übersendung der Behandlungsunterlagen – ohne Vorlage einer Schweigepflichtentbindungserklärung der Erben- erst nach Aufforderung durch die Prozessbevollmächtigten der Klägerin.
Sowohl die seitens der Klägerin angenommenen Gegenstandswerte, als auch die Höhe der Geschäftsgebühr, in der Angelegenheit E... mit 1,3 und in der Angelegenheit K... mit 1,8 bzw. 1,0 unter Anrechnung, sind begründet und angemessen.
Der Einsatz von Spezialkenntnissen, um die es sich beim Arzthaftungsrecht wie allgemein beim Medizinrecht durchaus handelt, ist etwas, das als Kriterium rechtlicher Schwierigkeit auch zugunsten des Spezialisten anzuerkennen ist. Es kommt demnach nicht maßgeblich darauf an, ob es sich für die mit der Sache befassten Anwälte einer speziell auf Arzthaftungsrecht spezialisierten Kanzlei um einen "Durchschnittsfall" handelt oder ob er auch aus Sicht eines Spezialisten außergewöhnlich umfangreich oder schwierig ist. Von den beiden Bemessungskriterien rechtliche Schwierigkeit und Umfang der anwaltlichen Tätigkeit stellt der Umfang der entfalteten Tätigkeit das im Regelfall wesentlichere Kriterium dar (OLG Köln, Beschluss vom 19.03.2015 - 5 W 7/15).
III.
Der Ausspruch über die Kosten beruht auf § 91 ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht, auf § 709 ZPO. Dabei war für die Höhe der Sicherheitsleistung nicht die Höhe des Streitwertes, sondern die Höhe eines möglichen Vollstreckungsschadens, hier der Erstellung der fraglichen Dokumentation, maßgeblich (Zöller/Herget, ZPO 34. Aufl. 2022, § 709 ZPO Rn. 5). Dieser wurde mit Hinzurechnung eines ebenfalls anzusetzenden Sicherheitszuschlages geschätzt.
Arzthaftung und Verjährung: Zurechnung medizinischen Fachwissens innerhalb einer Anwaltskanzlei? Prelinger, jurisPR-MedizinR 11/2021 Anm. 1 (Anmerkung zu BGH, Urteil vom 26.05.2020 - VI ZR 186/17)
Die regelmäßige Verjährungsfrist nach § 195 BGB wird mangels grob fahrlässiger Unkenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen i.S.v. § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB grundsätzlich nicht schon dann in Lauf gesetzt, wenn es der Geschädigte oder sein Wissensvertreter unterlässt, Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin zu überprüfen (Festhalten an BGH, Urt. v. 16.05.1989 – VI ZR 251/88 – NJW 1989, 2323).
1. Problemstellung
Besteht der Verdacht eines Behandlungsfehlers, so bedienen sich viele Patientinnen und Patienten anwaltlicher Beratung und Begleitung. Hierbei kann der zuständige Anwalt Wissensvertreter i.S.d. § 166 Abs. 1 BGB sein und somit die für den Verjährungsbeginn gemäß § 199 Abs. 1 BGB maßgebliche Kenntnis erlangen.
Der BGH hatte im vorliegenden Fall darüber zu entscheiden, ob das auch gilt, wenn nicht der mandatierte Anwalt der Kanzlei diese Kenntnis hatte, sondern ein anderer Anwalt die Kenntnis aus einer anderen Angelegenheit hatte. Zudem hatte der BGH darüber zu entscheiden, ob für die Kenntniserlangung der Erhalt der Behandlungsunterlagen ausreicht.
2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger wurde am 22.11.2003 mit einem Gewicht von 5.100 g im Krankenhaus der Beklagten zu 1) geboren. Die Geburt wurde zunächst von der Beklagten zu 3) als der diensthabenden Stationsärztin geleitet. Später übernahm die Beklagte zu 2) als gynäkologische Chefärztin die Geburtsleitung. Während der Geburt trat eine Schulterdystokie auf, weshalb die Beklagte zu 2) die Entscheidung zu einer vaginal-operativen Entbindung traf. Nach der Entbindung war der linke Arm des Klägers mit Hämatomen besetzt und schlaff. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden eine obere und untere Parese des Plexus brachialis links sowie eine Claviculafraktur diagnostiziert.
Die Mutter des Klägers fertigte am 04.08.2006 ein umfangreiches Gedächtnisprotokoll, in dem sie die Ereignisse von ihrer Aufnahme ins Krankenhaus der Beklagten zu 1) bis zur Geburt des Klägers detailliert beschrieb und Kritik an der angewandten geburtshilflichen Technik sowie daran übte, dass eine Risikoaufklärung unterblieben und keine Kaiserschnittentbindung angeboten worden seien.
Auf Aufforderung der Prozessbevollmächtigten des Klägers übersandte die Beklagte zu 1) ihnen am 22.09.2006 die aus 91 Seiten bestehende Dokumentation über den stationären Aufenthalt der Mutter des Klägers. Eine Seite des Geburtsprotokolls, die den Zeitraum von der Aufnahme der Mutter bei der Beklagten zu 1) am Nachmittag des 19.11.2003 bis um 13.40 Uhr am Folgetag dokumentiert, fehlte zunächst und wurde erst im Mai 2008 übermittelt. Mit Schreiben vom 09.08.2007 erhoben die damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers Ansprüche gegen die Beklagte zu 1), deren Haftpflichtversicherer in einem Schreiben vom 20.08.2007 ankündigte, Einsicht in die Behandlungsunterlagen zu nehmen sowie ärztliche Stellungnahmen einzuholen und sich anschließend zur Deckungs- und Haftungsfrage zu äußern. Am 26.10.2007 lehnte der Haftpflichtversicherer eine Haftung der Beklagten ab. Am 13.11.2007 baten die Prozessbevollmächtigten des Klägers um eine nochmalige Überprüfung der Sach- und Rechtslage und um die Überlassung weiterer Unterlagen. Der Haftpflichtversicherer übersandte am 05.05.2008 die fehlende erste Seite der Dokumentation des stationären Aufenthalts der Mutter des Klägers unter Hinweis darauf, man halte an der bereits im Schreiben vom 26.10.2007 bekundeten Auffassung fest. Auf nochmalige Aufforderung vom 02.06.2008 übersandte der Haftpflichtversicherer am 05.08.2008 weitere Unterlagen. Die Prozessbevollmächtigten des Klägers reagierten darauf mit Schreiben vom 12.06.2009.
Mit der am 29.10.2010 bei Gericht eingegangenen Klage begehrt der Kläger von den Beklagten als Gesamtschuldner die Zahlung von Schmerzensgeld und materiellem Schadensersatz.
Der BGH führte aus, das die nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB erforderliche Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners nicht schon dann bejaht werden könne, wenn dem Patienten oder seinem gesetzlichen Vertreter lediglich der negative Ausgang der ärztlichen Behandlung bekannt ist. Er müsse vielmehr auch auf einen ärztlichen Behandlungsfehler als Ursache dieses Misserfolgs schließen können. Dazu müsse er nicht nur die wesentlichen Umstände des Behandlungsverlaufs kennen, sondern auch Kenntnis von solchen Tatsachen erlangen, aus denen sich für ihn als medizinischen Laien ergibt, dass der behandelnde Arzt von dem üblichen medizinischen Vorgehen abgewichen ist oder Maßnahmen nicht getroffen hat, die nach dem ärztlichen Standard zur Vermeidung oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich waren.
Diese Kenntnis sei erst vorhanden, wenn die dem Anspruchsteller bekannten Tatsachen ausreichen, um den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten des Anspruchsgegners und auch die Ursache dieses Verhaltens für den Schaden als naheliegend erscheinen zu lassen. Hinsichtlich der Kenntnis der für den Beginn der Verjährungsfrist maßgebenden Umstände komme es grundsätzlich auf die Person des Anspruchsgläubigers selbst an.
Allerdings müsse sich der Anspruchsgläubiger entsprechend § 166 Abs. 1 BGB und mit Rücksicht auf Treu und Glauben (§ 242 BGB) auch die Kenntnis eines Wissensvertreters zurechnen lassen. Wissensvertreter sei jeder, der nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, im Rechtsverkehr als dessen Repräsentant bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen sowie ggf. weiterzuleiten. Dazu gehöre etwa die Verfolgung eines Anspruchs des Geschäftsherrn. Zugerechnet werde auch das Wissen eines Rechtsanwalts, den der Geschädigte mit der Aufklärung eines bestimmten Sachverhalts, etwa der Frage eines ärztlichen Behandlungsfehlers beauftragt habe. Die auf eine derartige Beauftragung begründete Zurechnung umfasst nicht nur das positive Wissen des Wissensvertreters, sondern auch seine leichtfertige oder grob fahrlässige Unkenntnis. Das Berufungsgericht komme daher zu dem Ergebnis, dass allein die Vorwürfe der Mutter des Klägers im Gedächtnisprotokoll nicht auf ihre in diesem Sinne ausreichende Kenntnis eines vom Standard abweichenden ärztlichen Verhaltens bereits im Jahr 2006 schließen lassen. Soweit das Berufungsgericht auf den Kenntnisstand der Rechtsanwälte abstelle, denen die Eltern des Klägers im Juli 2006 Prozessvollmacht erteilt hatten, nimmt es die gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 BGB erforderliche Kenntnis von den Behandlungsfehlern begründenden Tatsachen erst für August 2007 an, da diese in dem Anwaltsschreiben vom 09.08.2007 mit hinreichender Deutlichkeit „angesprochen“ worden seien.
Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen nach Auffassung des BGH jedoch die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht bezüglich der Behandlungsfehler eine grobfahrlässige Unkenntnis der Prozessbevollmächtigten des Klägers für das Jahr 2006 annahm. Grobe Fahrlässigkeit setze einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige Unkenntnis liege dann vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis fehlt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt und auch ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen. Ihm muss persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung vorgeworfen werden können.
Dabei beziehe sich die grob fahrlässige Unkenntnis ebenso wie die Kenntnis auf Tatsachen, auf alle Merkmale der Anspruchsgrundlage und bei der Verschuldenshaftung auf das Vertretenmüssen des Schuldners, wobei es auf eine zutreffende rechtliche Würdigung nicht ankommt. Ausreichend sei, wenn dem Gläubiger aufgrund der ihm grob fahrlässig unbekannt gebliebenen Tatsachen hätte zugemutet werden können, zur Durchsetzung seiner Ansprüche gegen eine bestimmte Person aussichtsreich, wenn auch nicht risikolos Klage – sei es auch nur in Form einer Feststellungsklage – zu erheben.
Nach gefestigter Rechtsprechung bestehe für den Gläubiger aber keine generelle Obliegenheit, im Interesse des Schädigers an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist Initiative zur Klärung von Schadenshergang oder Person des Schädigers zu entfalten. Für die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Gläubiger zur Vermeidung der groben Fahrlässigkeit zu einer aktiven Ermittlung gehalten ist, komme es vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls an. Das Unterlassen einer Nachfrage sei nur dann als grob fahrlässig einzustufen, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Unterlassen aus der Sicht eines verständigen und auf seine Interessen bedachten Geschädigten als unverständlich erscheinen lassen. Für den Gläubiger müssten konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein und sich ihm der Verdacht einer möglichen Schädigung aufdrängen.
Den Geschädigten treffe auch im Allgemeinen keine Informationspflicht. Der Patient und sein Prozessbevollmächtigter seien nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen Haftungsprozess medizinisches Fachwissen anzueignen.
Das Berufungsgericht habe auf das ausweislich des Schriftsatzes vom 04.12.2006 in einem anderen Verfahren gezeigte bereits vorhandene medizinische Fachwissen der Prozessvertreter des Klägers abgestellt, obwohl der Kläger geltend gemacht hat, dass Rechtsanwalt S. mit der Bearbeitung des Mandats des Klägers beauftragt worden sei, während der Schriftsatz in dem anderen Verfahren von Rechtsanwalt U. stamme.
Sollte die Entscheidung des Berufungsgerichtes dahin zu verstehen sein, dass mit der Erteilung eines Gesamtmandates an eine Sozietät alle Sozien zu Wissensvertretern für die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis werden und deshalb eine Zusammenrechnung des Wissens der Sozien zu erfolgen hat, sei wegen der grundsätzlich anzuerkennenden Gepflogenheit, innerhalb einer Anwaltssozietät die Bearbeitung der Mandate meist einzelnen Sozien zur eigenverantwortlichen Erledigung zu übertragen, zunächst die Frage zu beantworten gewesen, welche Voraussetzungen für eine Wissenszurechnung und eine etwaige Wissenszusammenrechnung bei einer solchen am Rechtsverkehr teilnehmenden Organisation heranzuziehen sind, bei der typischerweise Wissen bei verschiedenen Personen aufgespaltet sei.
Es könne allerdings dahinstehen, ob die für den rechtsgeschäftlichen Verkehr mit juristischen Personen entwickelten Grundsätze der Wissenszurechnung und Wissenszusammenrechnung im Rahmen der deliktsrechtlichen Haftung oder Verjährung überhaupt Anwendung finden können. Jedenfalls könne sowohl nach den für den rechtsgeschäftlichen Verkehr entwickelten Zurechnungsgrundsätzen wie nach der Rechtsprechung des Senats für Behörden und öffentliche Körperschaften, nach der auf die Kenntnis des nach der behördlichen Organisation zuständigen, mit der Vorbereitung und Verfolgung von Schadensersatzansprüchen betrauten Bediensteten abzustellen ist, das medizinische Fachwissen eines Sozius einem anderen regelmäßig nicht zugerechnet werden.
Jede am Rechtsverkehr teilnehmende Organisation müsse im Rahmen des ihr Zumutbaren sicherstellen, dass die ihr ordnungsgemäß zugehenden, rechtserheblichen Informationen unverzüglich an die entscheidenden Personen weitergeleitet und von diesen zur Kenntnis genommen werden. Maßgeblich ist dabei, ob unter den Umständen des konkreten Einzelfalls ein Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Vertretern möglich und geboten gewesen wäre. Die Entscheidungsträger müssen sich dann so behandeln lassen, als hätten sie das Wissen gehabt, wenn die Zeit verstrichen ist, die bei Bestehen eines effizienten internen Informationssystems benötigt worden wäre, um ihnen die Kenntnis zu verschaffen.
Zugerechnet werde nach der Rechtsprechung einer juristischen Person das Wissen auch derjenigen Organwalter und Mitarbeiter, die am Abschluss eines Vertrages selbst nicht beteiligt sind, sofern dieses Wissen bei ordnungsgemäßer Organisation aktenmäßig festzuhalten, weiterzugeben und vor Vertragsabschluss abzufragen ist.
Daraus würde für eine Anwaltssozietät das Erfordernis eines effektiven Informationssystems zur ordnungsgemäßen Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation und des Informationsaustauschs zwischen den Sozien folgen, das in der Verpflichtung zur Führung von Handakten in § 50 Abs. 1 BRAO bereits gesetzlich angelegt ist. Für das einzelne Mandat eingebrachtes oder erworbenes Fachwissen außerhalb von Rechtskenntnissen, aus nichtjuristischen Wissensgebieten wie beispielsweise Medizin, gehörte im Regelfall aber nicht zu dem in einer Sozietät notwendig auszutauschenden und in ein Informationssystem einzuspeisenden Wissen.
Stellte man in entsprechender Anwendung der Rechtsprechung des Senats zur Zurechnung von Kenntnis bei Behörden und öffentlichen Körperschaften auf die Zuständigkeitsregelung ab, wäre die Kenntnis des Sozius entscheidend, der ausdrücklich vom Mandanten beauftragt – etwa durch ein personenbezogenes Einzelmandat – oder sozietätsintern mit der eigenverantwortlichen Sachbearbeitung und Tatsachenermittlung betraut worden ist. Nach dem revisionsrechtlich zu unterstellenden Vortrag des Klägers könnte das medizinische Fachwissen von Rechtsanwalt U. nicht Rechtsanwalt S. zugerechnet werden.
Im Streitfall bedürfe die Frage der Wissenszurechnung jedoch keiner Entscheidung, da unabhängig von etwaigem vorhandenem medizinischem Fachwissen der Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis nicht mit der Begründung erhoben werden kann, die Prozessbevollmächtigten des Klägers hätten nach Eingang der Behandlungsunterlagen Ende September 2006 noch vor dem Jahresende diese Unterlagen prüfen und ihnen Hinweise auf schuldhaftes Fehlverhalten der Beklagten entnehmen müssen und können. Es könne nämlich von einem Patienten oder seinem Wissensvertreter grundsätzlich nicht erwartet werden, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin überprüft, es sei denn, es handelte sich um Feststellungen, die sich ohne weiteres treffen lassen, wie etwa die Feststellung der Namen der behandelnden Ärzte. Den Behandlungsunterlagen seien jedoch Hinweise auf Behandlungsfehler nur bei einer Analyse der Dokumentation unter Heranziehung besonderen Fachwissens aus dem Bereich der Gynäkologie zu entnehmen gewesen.
3. Kontext der Entscheidung
Der Kontext der Entscheidung besteht hier erstaunlicherweise sogar auch im eigenen Verfahrensverlauf. Nach dem LG Koblenz (Urt. v. 11.03.2015 – 10 O 103/10) erkannte das OLG Koblenz (Urt. v. 23.09.2015 – 5 U 403/15, vgl. Prelinger, jurisPR-MedizinR 2/2016 Anm. 5), dass die Ansprüche verjährt seien. Der BGH (Urt. v. 08.11.2016 – VI ZR 594/15, vgl. Prelinger, jurisPR-MedizinR 12/2017 Anm. 2) hob die Entscheidung auf und verwies die Sache an das Oberlandesgericht zurück, woraufhin das OLG Koblenz (Urt. v. 12.04.2017 – 5 U 403/15) nach weiterer Sachaufklärung weiterhin Verjährung annahm. Dies hatte nun erneut vor dem BGH keinen Bestand und führte zur Aufhebung und Zurückverweisung an das Oberlandesgericht zur erneuten Sachentscheidung.
Zunächst fällt in der aktuellen Entscheidung auf, dass der BGH anfänglich ausführt, dass das Anwaltsschreiben aus 2007 für den Fristbeginn ausreiche, da der Anwalt den Behandlungsfehler dort „angesprochen“ habe. Diese recht kurze Bemerkung hat aber weitreichende Konsequenzen, hinsichtlich derer unklar ist, ob der BGH damit ernsthaft meinte, dass alleine durch das „ansprechen“ eines Behandlungsfehlers eine Kenntnis vorliegt.
Da das Ausbleiben des Erfolgs ärztlicher Maßnahme seinen Grund in der Eigenart der Erkrankung oder aber in der Unzulänglichkeit ärztlicher Bemühungen haben kann, gehört zur Kenntnis der den Anspruch begründenden Tatsachen das Wissen, dass sich in dem Misslingen der ärztlichen Tätigkeit nicht das allgemeine Krankheitsrisiko, sondern das Behandlungsrisiko verwirklicht hat (BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08; BGH, Urt. v. 23.04.1991 – VI ZR 161/90). Hierzu genügt es nicht schon, dass der Patient Einzelheiten des ärztlichen Tuns oder Unterlassens kennt. Vielmehr muss ihm aus seiner Laiensicht der Stellenwert des ärztlichen Vorgehens für den Behandlungserfolg bewusst sein. Deshalb beginnt die Verjährungsfrist nicht zu laufen, bevor nicht der Patient als medizinischer Laie Kenntnis von Tatsachen erlangt hatte, aus denen sich ergab, dass der Arzt von dem üblichen ärztlichen Vorgehen abgewichen war oder Maßnahmen nicht getroffen hatte, die nach ärztlichem Standard zur Vermeidung oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich gewesen wären. Diese Kenntnis ist aber auch erst vorhanden, wenn die dem Anspruchsteller bekannten Tatsachen ausreichen, um den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten des Anspruchsgegners und auf die Ursache dieses Verhaltens für den Schaden als „naheliegend“ erscheinen zu lassen (BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08 m.w.N.).
Wenn eine Patientin oder deren Anwalt bloß einen Behandlungsfehler „anspricht“ oder lediglich „formulieren“ kann, folgt daraus noch keine positive Kenntnis, wie der BGH bereits zutreffend in seiner in diesem Verfahren vorangehenden Entscheidung selbst zutreffend erkannte. Dort führte der BGH aus (BGH, Urt. v. 08.11.2016 – VI ZR 594/15 Rn. 13, unter Hinweis auf Prelinger, jurisPR-MedizinR 2/2016 Anm. 5):
„Diese Kenntnis ist erst vorhanden, wenn die dem Anspruchsteller bekannten Tatsachen ausreichen, um den Schluss auf ein schuldhaftes Fehlverhalten des Anspruchsgegners und auf die Ursache dieses Verhaltens für den Schaden als naheliegend erscheinen zu lassen (BGH vom 10. November 2009 – VI ZR 247/08, VersR 2010, 214 Rn. 6 mwN). Allein die Vorwürfe der Mutter des Klägers im Gedächtnisprotokoll vom 4. August 2006 lassen nicht auf eine in diesem Sinne ausreichende Kenntnis eines vom Standard abweichenden ärztlichen Verhaltens schließen.“
„Vorwürfe“ allein reichen somit nicht aus. Vielmehr muss „Klarheit“ über den Behandlungsfehler und die Ursache bestehen, da sonst eine Feststellungsklage nicht zumutbar ist (BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08). Sicherlich gibt es Ausnahmefälle, bei denen sich ein Behandlungsfehler aufdrängt, z.B. wenn ein Neugeborenes zu wenig Sauerstoff erhält und nichts dagegen getan wird. In der Regel sind die Verdachtsmomente aber nicht so eindeutig und eine Einhaltung des Facharztstandards ist ebenso möglich. Aus dem Verdacht eine positive Kenntnis zu machen, würde gegen den klaren Gesetzeswortlaut verstoßen (dazu später).
Allerdings kann die Untätigkeit den Vorwurf grobfahrlässiger Unkenntnis begründen. Wie der BGH auch hier zutreffend ausführt, kommt es für die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Gläubiger zu einer aktiven Ermittlung gehalten ist, vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls an. Das Unterlassen einer Nachfrage ist nur dann als grob fahrlässig einzustufen, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Unterlassen aus der Sicht eines verständigen und auf seine Interessen bedachten Geschädigten als unverständlich erscheinen lassen. Für den Gläubiger müssten konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein und sich ihm der Verdacht einer möglichen Schädigung aufdrängen. Das Sichberufen auf die Unkenntnis muss als Förmelei erscheinen, weil jeder andere in der Lage des Geschädigten unter denselben konkreten Umständen die Kenntnis gehabt hätte (BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08).
Hier kommen regelmäßig zwei Handlungsmöglichkeiten in Betracht, die leider oftmals verkannt werden und immer wieder in der pauschalen These münden, die Patientin habe die Kenntnis nicht erst, wenn ihr ein Gutachten vorliege, sondern bereits bei einer Information, dass ein Behandlungsfehler vorliegen kann:
a) Für den Gläubiger müssen konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein und sich ihm der Verdacht einer möglichen Schädigung aufdrängen. Das Unterlassen einer solchen Nachfrage ist aber nur dann als grob fahrlässig einzustufen, wenn weitere Umstände hinzutreten, die dieses Verhalten aus der Sicht eines verständigen und auf seine Interessen bedachten Patienten als unverständlich erscheinen lassen (vgl. o.).
Selbst wenn die Patientin oder ihr Anwalt trotz des Verdachts untätig bleiben, wird der Fristbeginn dennoch nicht sofort, sondern erst für denjenigen Zeitpunkt angenommen, zu dem diese die positive Kenntnis hypothetisch gehabt hätte (BGH, Urt. v. 26.05.2020 – VI ZR 186/17; BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08; BGH, Urt. v. 16.07.2009 – IX ZR 118/08; OLG Bamberg, Beschl. v. 14.02.2014 – 4 U 62/13, dort Mai 2004 bis Ende 2004/Anfang 2005 = ca. 7 bis 8 Monate später bei fehlender Mitwirkung bei der Erstellung eines Gutachtens durch den MDK/MD).
b) Die Patientin, die sich sorgfältig verhält, indem sie dem Verdachtsmoment nachgeht, kann nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht schlechtergestellt werden als eine nachlässig handelnde Patientin. Hierzu zwingt schon das verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der Patientin, die nämlich das Recht hat, sich über ihren gesundheitlichen Zustand und die Ursachen einer Erkrankung zu informieren, ohne dass ihr vorgeworfen werden kann, dass sie diese Begutachtung nicht hätte abwarten dürfen.
Wenn sich die Patientin bzw. ihr Anwalt – wie oftmals – dafür entscheiden, dem Verdacht sorgfältig nachzugehen, insbesondere durch Einholung von Gutachten, dann ist dieses Handeln objektiv wie subjektiv konsequent und nachvollziehbar auf die Aufklärung des Verdachts gerichtet und kann somit keinesfalls mehr grob fahrlässig sein.
Gesetzlich besteht hierfür sogar mit § 66 SGB V ein eigenständiges öffentlich-rechtliches Begutachtungssystem durch den Medizinischen Dienst (MD, vormals MDK). Die gesetzliche Krankenkasse hat aufgrund des hierfür eigens geschaffenen – und durch das Patientenrechtegesetz 2012 sogar von einer Soll-Vorschrift zu einer Muss-Vorschrift modifizierten – § 66 SGB V (vgl. BT-Drs. 17/10488 v. 15.08.2012, S. 7, S. 13, S. 48) die Pflicht, auf entsprechenden Antrag der Versicherungsnehmerin ein Fachgutachten erstellen zu lassen (zur Verjährung beim überlangen Zuwarten auf das Gutachten des MDK gemäß § 66 SGB V vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 14.02.2014 – 4 U 62/13).
Hierzu zwingt im Übrigen auch das exorbitante Prozesskostenrisiko, bei dem neben den Anwaltskosten und dem Gerichtskostenvorschuss auch die Kosten für das stets einzuholende Gerichtsgutachten von regelmäßig nicht unter 2.500 Euro anfallen – ggf. mit weiteren erneut gleichhohe Kosten verursachenden Folgegutachten bezüglich der Kausalzusammenhänge mit weiteren Sekundärverletzungen. Die Zumutbarkeit ist übergreifende verfassungsrechtliche Voraussetzung für den Verjährungsbeginn (BGH, Urt. v. 28.10.2014 – XI ZR 348/13; BGH, Urt. v. 28.10.2014 – XI ZR 17/14; BGH, Urt. v. 15.06.2010 – XI ZR 309/09; BGH, Urt. v. 29.09.2012 – VIII ZR 240/11). Verfassungsrechtlich ist aber ein derartiges Kostenrisiko unzumutbar, wenn die Klägerin ihre Erfolgsaussichten nicht hinreichend beurteilen kann. Zwar braucht die Klage nicht risikolos zu sein, aber dieser Aspekt betrifft nur den üblichen Umstand, dass die Klagepartei nie genau die Beweiswürdigung gemäß den §§ 286, 287 ZPO vorhersehen kann und natürlich dieses beiläufige Restrisiko immer eingehen muss, aber eben nicht das zentrale Risiko einer Klage ins Blaue hinein, nur weil man die These eines Behandlungsfehlers „formulieren“ kann.
Zugleich können auch die gemäß § 4 Abs. 4 SGB V zur Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit verpflichteten gesetzlichen Krankenkassen ohne solche Gutachten des MDK/MD (vgl. § 275 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4, Satz 2 SGB V) im Massengeschäft nicht die Erfolgsaussichten einer Klage etwaiger nach § 116 Abs. 1 SGB X übergegangener Ansprüche beurteilen. Insbesondere nach Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes 2013 kam es zu einer exorbitanten Steigerung der Begutachtungsanträge von Versicherten, in denen auch oftmals haltlose Vorwürfe gegen Ärztinnen und Ärzte erhoben wurden, weil der – bekanntlich nicht geschuldete – erstrebte Erfolg nicht eintrat. Die Krankenkassen können hier ohne Gutachten des MD keinerlei Bewertung vornehmen und Prognosen erstellen. Schon gar nicht können sie ihrer gesetzlichen Verpflichtung zum sparsamen und wirtschaftlichen Handeln nachkommen, wenn auf jeden Verdacht hin gleich die Verjährungsfrist läuft und man im Zweifel auch ohne Gutachten unzählige kostenintensive Klagen mit zweifelhafter Erfolgsaussicht einreichen müsste.
c) Auch die prozessualen Darlegungserleichterungen (dazu vgl. BGH, Urt. v. 24.02.2015 – VI ZR 106/13; BGH, Beschl. v. 01.03.2016 – VI ZR 49/15) dienen nur der Wahrung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, nicht aber dazu, materiell-rechtlich einen verfrühten Fristbeginn anzunehmen.
Das Gesetz sieht in § 199 Abs. 1 BGB nun einmal vor, dass der Patientin eine Frist von drei Jahren ab Schluss des für die Kenntnis maßgeblichen Jahres zur Verfügung stehen soll. Eine überhastete Verkürzung dieser Frist durch eine verfrühte Annahme des Verjährungsbeginns würde ihrerseits zu einer Verletzung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG führen. Die fehlende Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände kann insbesondere auch nicht durch das pauschale Argument der vermeintlichen Zumutbarkeit der Klageerhebung bereits bei Bestehen eines „Verdachts“ eines Behandlungsfehlers ersetzt werden. Soweit in der Rechtsprechung auf die Frage der Zumutbarkeit für den Verjährungsbeginn abgestellt wird, betrifft dies nur die Frage, ob bei einer Kenntnis von allen anspruchsbegründenden Umständen dennoch die Verjährung nicht beginnt, weil eine Klageerhebung trotz dieser Kenntnis noch unzumutbar sein könnte (Piekenbrock in: BeckOGK, Stand: 01.08.2020, § 199 BGB Rn. 131 ff.). Demgegenüber beginnt die Verjährung ohne die erforderliche Kenntnis nicht zu laufen, auch wenn eine Klageerhebung wegen eines Verdachts stattdessen denkbar wäre. Dieser Ansicht steht bereits der klare Wortlaut des § 199 BGB entgegen (sehr passend zum „Dieselskandal“ LG Hildesheim, Urt. v. 09.10.2020 – 4 O 300/19 Rn. 28).
Die prozessualen Darlegungserleichterungen würden die gesetzlichen Anforderungen an den Verjährungsbeginn gemäß § 199 Abs. 1 BGB obsolet machen, wenn man in jedem Fall statt einer positiven Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis bereits eines solche „Vermutung“ für den Fristbeginn ausreichen ließe. Es käme im Arzthaftungsrecht gesetzeswidrig zu einem kenntnisunabhängigen Verjährungsbeginn, womit der Verlust der Durchsetzungsmöglichkeit allein durch Zeitablauf droht. Diese Folge widerspricht der aus der Regelung in § 199 BGB zu entnehmenden Grundentscheidung des Gesetzgebers, den Lauf der Verjährung mit der Kenntniserlangung des Geschädigten zu verknüpfen (BGH, Urt. v. 28.02.2012 – VI ZR 9/11 Rn. 21).
Dass die Patientin somit bereits dann eine positive Kenntnis haben soll, wenn sie ohne die vom BGH geforderten weiteren Kenntnis von den maßgeblichen Details (Facharztstandard, pflichtwidrige Abweichung hiervon, haftungsbegründende Kausalität bzw. Beweislastumkehr wegen groben Behandlungsfehlers, Verschulden, vgl. o.) den Behandlungsfehler „anspricht“, wäre äußerst zweifelhaft.
Hiernach stellte sich die Frage, ob eine den Verjährungsbeginn auslösende grobfahrlässige Unkenntnis vorlag. Da es im vorliegenden Fall nicht auf die Person der Patientin ankam, sondern ihres Anwalts, diskutierte der BGH die denkbaren Zurechnungskriterien.
Hierbei wurde zunächst erörtert, ob das von einem anderen Anwalt der Soziatät in einem ganz anderen Verfahren 2006 schriftsätzlich geäußertes „Fachwissen“ dem für die hier klagende Patientin zuständigen Anwalt der Sozietät zuzurechnen ist. Der BGH lehnt dies zutreffenderweise ab, da dieser Partner eben gerade nicht zuständiger Anwalt der klagenden Patientin und damit zweifelsohne nicht Wissensvertreter i.S.d. § 166 Abs. 1 BGB ist. Etwas verwunderlich ist, wie eine solche Zurechnung überhaupt denkbar sein könnte, denn jeder Mensch ist verschieden, so dass Kenntnisse aus einem anderen Arzthaftungsmandat nicht auf einen Sachverhalt einer weiteren Patientin bzw. Mandantin übertragbar sein können.
Der BGH gelangte hiernach zu der zutreffenden Erkenntnis, dass die für die Wissenszurechnung bestehenden Grundsätze für eine Anwaltssozietät das Erfordernis eines effektiven Informationssystems zur ordnungsgemäßen Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation und des Informationsaustauschs zwischen den Sozien erfordern würde, das in der Verpflichtung zur Führung von Handakten in § 50 Abs. 1 BRAO bereits gesetzlich angelegt ist. Für das einzelne Mandat eingebrachtes oder erworbenes Fachwissen aus nichtjuristischen Wissensgebieten wie der Medizin gehöre im Regelfall aber nicht zu dem in einer Sozietät notwendig auszutauschenden und in ein Informationssystem einzuspeisenden Wissen.
Dem ist ebenfalls zuzustimmen. Es wäre völlig undenkbar, dass überhaupt eine Kanzlei ein solches System schaffen könnte, da jeder Einzelfall medizinisch völlig verschieden ist. Zudem könnte ein Anwalt kaum dieses System prozessual darlegen, ohne die Schweige- und (Gesundheits-)Datenschutzpflicht zu verletzen (§ 203 Abs. 1 StGB, § 43a Abs. 1 BRAO, Art. 9 Abs. 1 DSGVO).
Der BGH führt weiterhin aus, dass die Kenntnis des Sozius entscheidend wäre, der ausdrücklich vom Mandanten beauftragt oder sozietätsintern mit dem Mandat betraut worden ist. Diese Ausführungen verwundern etwas, weil sie implizieren (der genaue Wortlaut des Anwaltsschreibens wurde nicht veröffentlicht), dass Anwälte über medizinisches Fachwissen – und das auch noch in dem für das jeweilige Mandat maßgeblichen Fachgebiet – verfügen. Das kann nicht richtig sein, weil der Anwalt regelmäßig über keinerlei medizinische Ausbildung verfügt und nur verpflichtet ist, die ihm zugetragenen Erkenntnisse juristisch auf ihre materiell-rechtliche Schlüssigkeit auszuwerten. Es ist zweifelsohne nicht Bestandteil des Mandatsvertrags, dass der Anwalt über medizinische Fachkenntnisse verfügen muss. Ein Anwalt müsste dann mehr können als ein Arzt, der auch nur in wenigen Fachgebieten über vertiefte Fach(arzt)kenntnisse verfügen kann.
Dieses Risiko wäre auch nicht in der anwaltlichen Berufshaftpflichtversicherung versichert, denn dort ist nur die unabhängige Beratung und Vertretung in Rechtsangelegenheiten als klassische Tätigkeit des Rechtsanwalts versichert, wie sie auch in § 3 BRAO beschrieben ist (BGH, Beschl. v. 18.03.2020 – IV ZR 43/19; BGH, Beschl. v. 23.09.2015 – IV ZR 484/14).
Auch würde der Verjährungsbeginn von der Qualifikation des mandatierten Anwalts abhängen. Wenn die Patientin nämlich einen Anwalt ohne Kenntnisse im Arzthaftungsrecht mandatiert – die freie Anwaltswahl ist verfassungsrechtlich und auch in § 3 Abs. 3 BRAO besonders geschützt und eignet sich daher auch nicht als Argument einer „falschen“ Anwaltswahl der Patientin –, der sich erst lange in die Materie einarbeiten muss, dann würde es dadurch zu einer der Patientin zufällig günstigen Verzögerung der positiven Kenntnis kommen. Der fachlich weniger versierte Anwalt würde somit gegenüber dem spezialisiertem Anwalt besser gestellt.
Dass es nicht auf fachliche Erfahrungen des Anwalts ankommen kann, wird besonders deutlich bei einem Vergleich mit der Richterschaft. Regelmäßig verfügen auch die Richterinnen und Richter nicht über medizinisches Fachwissen, weshalb sie in Arzthaftungsprozessen verpflichtet sind, sich medizinischer Gutachter zu bedienen (BGH vom 09.01.2018 – VI ZR 106/17; BGH, Beschl. v. 13.01.2015 – VI ZR 204/14). Hiernach wäre unverständlich, weshalb dann vom Anwalt vorgerichtlich mehr gefordert werden könnte.
Letztlich brauchte der BGH die Frage der anwaltlichen Wissenszurechnung nicht zu entscheiden, da eine Kenntnis im konkreten Fall ohnehin nicht vorgelegen hätte. Denn nach der Rechtsprechung kann von einem Patienten oder seinem Wissensvertreter grundsätzlich nicht erwartet werden, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin überprüft, es sei denn, es handelte sich um Feststellungen, die sich ohne weiteres treffen lassen, wie etwa die Feststellung der Namen der behandelnden Ärzte (BGH, Urt. v. 29.11.1994 – VI ZR 189/93; BGH, Urt. v. 16.05.1989 – VI ZR 251/88). Hierbei führte der BGH verdeutlichend aus, dass den Behandlungsunterlagen Hinweise auf Behandlungsfehler nur bei einer Analyse der Dokumentation unter Heranziehung „besonderen Fachwissens“ aus dem Bereich der Gynäkologie zu entnehmen gewesen wären, so dass eine Unkenntnis nicht auf grober Fahrlässigkeit beruhte.
Hiermit hat der BGH eine wichtige Weichenstellung vorgenommen. Geht es – wie regelmäßig – um besonderes Fachwissen, ist es nicht grob fahrlässig, wenn der Anwalt oder die Patientin die Behandlungsunterlagen nicht medizinisch auswerten können. Wird für die Auswertung – wie regelmäßig – medizinisches Fachwissen benötigt, kann eine grob fahrlässige Unkenntnis allenfalls dann denkbar sein, wenn keine weiteren Schritte veranlasst werden, um sich diese Kenntnis zu verschaffen, z.B. indem ein Gutachten eingeholt wird, insbesondere nach § 66 SGB V.
4. Auswirkungen für die Praxis
Der Entscheidung ist vollumfänglich zuzustimmen. Die Entscheidung verhindert eine Zurechnung nicht am konkreten Mandat beteiligter Anwältinnen und Anwälte und die Schaffung eines kanzleiinternen Informationssystems, das vermutlich auch gegen die gesetzliche Schweigepflicht des Anwalts bzw. der Kanzlei und den besonders strengen Schutz der Gesundheitsdaten verstoßen würde. Zudem könnten dann Geschäftsgeheimnisse der Kanzlei offenbart werden.
Für die Praxis besteht Klarheit, dass der BGH an seiner Rechtsprechung aus 1989 und 1994 weiterhin festhält, dass von einem Patienten oder seinem Wissensvertreter grundsätzlich nicht erwartet werden kann, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin überprüft. Die Kenntnis vom Inhalt der Behandlungsunterlagen führt somit nicht per se zu einer positiven Kenntnis, wenn für die Auswertung – wie regelmäßig – besonderes Fachwissen erforderlich ist. Dann wäre nur das Unterlassen weiterer Maßnahmen zur Verschaffung der Kenntnis möglicherweise unverständlich und damit grob fahrlässig. Letzterenfalls würde die Verjährungsfrist zu dem Zeitpunkt beginnen, zu dem die Patientin bei Veranlassung dieser Maßnahmen die Kenntnis gehabt hätte (vgl. o.). Werden hingegen pflichtgemäß weitere Aufklärungsbemühungen durchgeführt, insbesondere Gutachten eingeholt, dann liegt die Kenntnis denklogisch erst vor, wenn die Patientin oder ihr Anwalt das Gutachten erhalten. Ist das Gutachten nach juristischer Auswertung lückenhaft, muss auf eine zeitnahe Ergänzung hingewirkt werden.
Mittelbar geht hieraus aber auch hervor, dass die prozessualen Darlegungserleichterungen nicht zu einer positiven Kenntnis führen, nur weil man einen bloßen Verdacht eines Behandlungsfehlers behaupten könnte. Dieses oftmals von den Gerichten angeführte Argument würde zu einem kenntnisunabhängigen Verjährungsbeginn und somit zu einer Aushöhlung der gesetzlichen Anforderungen an den Verjährungsbeginn gemäß § 199 Abs. 1 BGB führen (vgl. o.). Die abgemilderten Darlegungsvoraussetzungen können somit nur in den Fällen eine Rolle spielen, in denen die Patientin trotz Verdachts keine weiteren Aufklärungsmaßnahmen veranlasst und dennoch Klage erhebt, da sie nur dann auf die abgemilderten Darlegungsanforderungen angewiesen ist.
Etwas beunruhigend bleibt, wie der BGH zur der – hier mangels Entscheidungserheblichkeit im Raum stehengelassenen – Frage, ob das „Fachwissen“ des zuständigen Anwalts der Kanzlei aus einer anderen Angelegenheit zu einer positiven Kenntnis führen kann, erkannt hätte. Der Anwalt hat regelmäßig kein medizinisches Fachwissen und kann nur eine juristisch-dogmatische Bewertung der Erkenntnisse über diese konkrete Mandantin vornehmen (vgl. o.). Da alle Menschen unterschiedlich sind, sind auch die jeweiligen medizinischen Behandlungsanforderungen fast nie vergleichbar, so dass auch die Behandlungsfehler nicht vergleichbar sind. Somit sind die Erfahrungen des Anwalts regelmäßig auch nicht auf einen anderen Fall übertragbar. Die Ausnahmen hiervon dürften gering sein, aber sich ohnehin nicht nachweisen lassen, da dies dazu zwingen würde, dass der Anwalt die vormalige Angelegenheit und sein „Fachwissen“ daraus genau darlegt – was gegen seine Verschwiegenheits- und (Gesundheits-)Datenschutzpflicht verstieße. Nach § 43a Abs. 2 Satz 2 BRAO bezieht sich die Verschwiegenheitspflicht auf „alles“, was ihm in Ausübung seines Amtes bekannt geworden ist.
© juris GmbH
Autor
Wolfdietrich Prelinger, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Verkehrsrecht, Fachanwalt für Versicherungsrecht
Erscheinungsdatum
25.11.2021
Anmerkung zu
BGH, Urteil vom 26.05.2020 – VI ZR 186/17
Artikel in juris öffnen https://www.juris.de/perma?d=jpr-NLMZ000003821
Quelle
Fundstelle
jurisPR-MedizinR 11/2021 Anm. 1
Herausgeber
Möller und Partner – Kanzlei für Medizinrecht
Zitiervorschlag
Prelinger, jurisPR-MedizinR 11/2021 Anm. 1
Gesundheitsforen Leipzig am 23. September 2021: Tagungsvortrag »Aktuelle relevante Rechtsprechung zum Bereich § 116 SGB X«
Die Gesundheitsforen Leipzig als Dienstleister im Gesundheitswesen https://www.gesundheitsforen.net veranstalteten den jährlichen "FOKUSTAG Einnahmemanagement - Ersatzansprüche nach § 116 SGB X in der Krankenversicherung". Daher war es mir wieder eine besondere Freude, auch dieses Jahr wieder aktiv mit dabei sein zu können und zu aktuellen Themen in diesem Bereich zu referieren. Folgende gerichtliche Entscheidungen und sonstige Themen waren Gegenstand des Vortrags:
- BGH, Urteil v. 19.01.2021 – VI ZR 125/20: Geltung des § 116 SGB X für mitversicherte Personen
- LG Coburg, Urteil v. 16.09.2020 – 13 O 545/16: Beweislast des Sozialversicherungsträgers - "Actineo"-Light?
- § 76 Abs. 2 Nr. 1a SGB X: Verwertbarkeit zugänglich gemachter medizinischer Unterlagen
- OLG Nürnberg, Urteil v. 5.11.2020 – 13 U 2653/18: Ein Primärschaden liegt auch bei Kopf- und Nackenschmerzen vor
- OLG Nürnberg, Urteil v. 20.08.2020 –13 U 1187/20: Mitverschulden - Weiterhin keine Helmpflicht für Radfahrer
- OLG Celle, Urteil v. 07.04.2021 – 14 U 134/20: Trifft den SVT eine Schadensminderungspflicht?
- BGH, Urteil v. 10.11.2020 – VI ZR 285/19: Ein Verjährungsverzicht führt nicht zum Neubeginn der Verjährung
- OLG München, Beschluss v. 16.10.2020 – 24 U 4446/20: Ein Verjährungsverzicht erfasst regelmäßig wiederkehrende Leistungen
- OLG Frankfurt, Beschluss v. 14.04.2021 – 22 U 15/21: Regelmäßig wiederkehrende Leistungen verjähren außergerichtlich wie die sonstigen Schadenspositionen
- LG Köln, Urteil v. 14.08.2020 – 7 O 286/19: Gelten Teilungsabkommen für den Rechtsnachfolger?
Das Script habe ich hier hinterlegt: Prelinger_Vortrag_2021-ENDFASSUNG-21.9.21